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Montag, 30. November 2015

Entwurf zum Kulturgutschutzgesetz enttäuscht furchtbar

Prof. Sophie Lenski, Inhaberin Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Medienrecht, Kunst- und Kulturrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Konstanz urteilt über den aktuellen Gesetzesentwurf für ein neues Kulturgutschutzgesetz:
"Auf dem Papier sieht der Gesetzentwurf zunächst toll aus. Doch wenn man genauer hinschaut ist man furchtbar enttäuscht."
Reine Einfuhrbestimmungen hält sie für nicht ausreichend. Sie fordert eine deutsche Behörde mit Fachleuten, die Zertifikate ausstellt, ohne die die Objekte nicht gehandelt werden dürfen.


 zitiert bei Günther Wessel: Die Beute das Abu Sajjaf. Die ZEIT, 26. 11. 2015, S. 60

interne Links

Samstag, 28. November 2015

Der Beweis des Unbewiesenen - journalistische Arbeit zu den Blutantiken des Daesh

Ein lesenswerter Beitrag in den Archäologischen Informationen schildert die Recherchen, die den Beweis für die lange kolportierte, mehr als plausible, aber eben unbewiesene Beteiligung des Daesh am Antikenhandel publik gemacht haben. Da diese Verbindung von Antikenhandel und Terrorfinanzierung in den Medien schon lange präsent war, hatten die tatsächlichen Beweise kaum Beachtung gefunden.

(Nachtrag 28.11.2015)
siehe auch: G. Wessel: Die Beute das Abu Sajjaf. Die ZEIT, 26. 11. 2015, S. 60 (print).

(Nachtrag 9.10.2018)
jetzt publiziert, unter https://doi.org/10.11588/ai.2015.1.26206

Mittwoch, 25. November 2015

Geraubt, verkauft, vernächlässigt - Zur Lage der ägyptischen Altertümer

Jutta Zerres


Die zahlreichen Berichte zu der Bedrohung von Kulturgütern im Syrischen Bürgerkrieg rücken die Tatsache, dass es auch in Ägypten weiterhin zu Plünderungen und Beschädigungen kommt, aus dem Blickfeld. In der Berichterstattung in den letzten Monaten spielt das Thema keine große Rolle mehr. Statt dessen dominieren nun die vollkommen unbewiesenen Mutmassungen über weitere Kammern im Grab des Tutanchamun, in denen Nofretete bestattet sein soll, die Meldungen über Ägyptens Altertümer.
Es häufen sich indes - weitgehend unbeachtet - die Meldungen über sichergestellte bzw. zurück gegebenes Raubgrabungsgut.

Der Verkauf eines gestohlenen Reliefs aus dem Neuen Reich in einem Londoner Auktionshaus:

In der Kairoer Al-Rafai-Moschee wurden 98 emaillierte Glaslampen aus dem frühen 20. Jahrhundert gestohlen. Eine davon tauchte in einem Londoner Auktionshaus auf:
Mehrere Online-Medien berichten, dass im Hafen von Damietta der illegale Export von 1124 altägyptischen Artefakten verhindert wurde:
Um den letzten Willen seiner Mutter (oder seines Vaters?) zu erfüllen, übergab ein deutscher Staatsbürger eine Mumienmaske aus griechisch-römischer Zeit an das Ägyptische Kulturzentrum Berlin.

In Wien wurde ein Uschebti sichergestellt, der mutmasslich im Zuge der Unruhen von 2011 gestohlen worden war. Zwei Ägypter hatten versucht ihn für 2 Mio € zu verkaufen. Bei der Polizei gaben sie  an die Statuette auf einem Wiener Flohmarkt gekauft zu haben. Sie wurden im Zweifel vom Vorwurf der versuchten Hehlerei freigesprochen.

Der Blog „Khentiamentiu“ berichtet vom Verkauf mehrerer altägyptischer Objekte bei Christie’s und Bonham’s:
Am Bahnhof von Assuan wurde ein Mann verhaftet, der in Kairo einen Uschebti verkaufen wollte.

Frankreich gab einen hölzernen Kosmetiklöffel in Form einer Frauenfigur aus der 6. Dynastie zurück, die aus dem Depot des Imhotep-Museums von Sakkara gestohlen worden war.

Die ägyptische Polizei stellte bei drei Bauern 1774 altägyptische Objekte sicher, die sie in der Nähe ihrer Grundtücke illegal ausgegraben hatten und verkaufen wollten: 


El-Matariya (Nord-Kairo):
Obelisk des Sesostris I (12. Dynastie)
(Foto Public Domain via Wikimedia Commons)
Al-Monitor berichtet über die Vernachlässigung und Plünderung des Tempelareals Arab al Hosn aus der Ramessidenzeit im nördlichen Stadtgebiet von Kairo und beklagt die Untätigkeit der Behörden: 

Sonntag, 22. November 2015

Aussetzung der Denkmalpflege für Flüchtlingsheime ist ein falsches Zeichen!

Es ist richtig, alles zu tun, um den Flüchtlingen zu helfen - aus Menschlichkeit, aber gerade auch als Reaktion auf den Terror. Die jetzigen Flüchtlinge werden hoffentlich einmal in der Lage sein, ein friedliches Leben in ihrer Heimat im Nahen Osten, im heutigen Syrien und Irak wieder aufzubauen. Wenn dies im Sinne einer guten Nachbarschaft passiert, dann ist der Terror besiegt - und der derzeit gerne mal beschworene Kultur- und Religionskonflikt zwischen Christentum und Islam überwunden. Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind nicht nur ein problem, sie sind auch eine Chance, in den alten Nah-Ost-Konflikten mittel- bis langfristig etwas Positives zu bewegen.
Dementsprechend muss den Flüchtlingen bestmöglich geholfen werden, gleichzeitig muss aber auch vermieden werden, dass der fremdenfeindlichen Protestbewegung Munition gegeben wird.
Insofern ist es wenig hilfreich, für den Bau von Flüchtlingsheimen das Denkmalschutzgesetz über Jahre hinweg auszusetzen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, hier würde, "unsere" Kultur den Flüchtlingen geopfert. Zumal das unnötig ist: Mögliche Standorte, bei denen ein geringes Risiko besteht, dass archäologicshe Fundstellen betroffen sind, lassen sich relativ einfach im Vorfeld identifizieren.
Außerdem sollte vermieden werden, dass in einem Präzedenzfall der Denkmalschutz einfach für dringende Bauprogramme ausgehebelt wird. Auch der Straßenbau wird von manchen als dringend betrachtet - oder der Bau neuer Stromtrassen - oder das Einkaufszentrum - oder ....

Nach einem Gesetzesentwurf der regierenden SPD und der Grünen wurde am 11.11.2015 in Niedersachsen im Rahmen eines eilig durchgepeitschten Niedersächsischen Flüchtlingsunterbringungserleichterungsgesetzes (NFUEG) die Verpflichtung zur sachgerechten Untersuchung, Bergung und Dokumentation des Kulturdenkmals außer Kraft gesetzt.
Nach Beobachtung der DGUF gab es von den fachlich zuständigen Ministerien keine ernsthafte Verteidigung ihrer Belange, was erneut deutlich macht, dass es in der Denkmalpflege wie im Naturschutz eine unabhängige fachliche Interessensvertretung durch NGOs bedarf.


Stellungnahmen zur Gesetzesänderung in Niedersachsen durch den Verband der Landesarchäologen und die DGUF:

Donnerstag, 19. November 2015

Von Menschen und Kapuzenmänteln oder Wie kommuniziert eine Gesellschaft mit Alltagsgegenständen?

Jutta Zerres


Für Menschen haben Gegenstände des Alltagslebens nicht nur eine praktische Funktion, sondern sie dienen auch als Medien der gesellschaftlichen Kommunikation. Damit lassen sich Botschaften über Selbstbild, Lebensstil und Werte der Besitzer vermitteln. Die Objekte kennzeichnen Menschen als Mitglieder sozialer Gruppen und die Botschaften, die sie transportieren werden von den Betrachtern wahrgenommen und bewertet; sie schaffen Identifikation oder Ablehnung. Was so abstrakt klingt, ist jedem aus dem Alltagsleben bekannt: Eine Frau mit Kopftuch halten wir für eine Muslima; einem Mann mit Anzug und Krawatte geben wir unbewusst das Attribut „seriös“. Er könnte Banker, Anwalt oder Politiker sein. Ohne die Personen persönlich zu kennen, ordnen wir sie bestimmten Gruppen und Wertesystemen zu.

„Input“ aus der Soziologie für die Archäologie

Der französische Soziologe Pierre Boudieu hat das Phänomen in den 1970er Jahren anhand moderner Gesellschaften erforscht und sein sogenanntes Habitus-Konzept entwickelt. Es besagt, dass Formen des Verhaltens von Menschen in der Gesellschaft und die dabei verwendeten Gegenstände eine Bedeutung für die Identität und Repräsentation von Einzelpersonen oder Personenkreisen haben. Mit dem Begriff „Habitus“ ist das gesamte Auftreten einer Person bzw. Gruppe in der Gesellschaft gemeint. Dazu zählen die Weltanschauung, der Geschmack, die Sprache, die Kleidung usw. Welchen Habitus ein einzelner Mensch oder eine Gruppe entwickelt, wird von bestimmten Lebensbedingungen, von der sozialen Position, vom kulturellen Milieu und der Biografie bestimmt. Bourdieu fasst die Faktoren mit den Oberbegriffen "ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital" zusammen. 



Was hat das alles mit Archäologie zu tun? Viel, denn auch hier findet auch eine Beschäftigung mit Gegenständen statt und auch hier wird nach der Rolle der Objekte für die innergesellschaftliche Kommunikation gefragt. Jedoch ist das Interesse der Forschung bisher ein wenig einseitig. Der Fokus der Forschung bei der Beschreibung vergangener Gesellschaften richtete sich vielfach auf die „oberen Zehntausend“. Ein prunkvoller römischer Sarkophag oder ein prähistorischer Grabhügel mit vielfältigen Grabbeigaben wird automatisch hochrangigen Personen zugeordnet. Das Bild, dasdabei entsteht, , ist ein statisches; hier wird zu wenig berücksichtigt, dass es innerhalb von Gesellschaften keine festen, sondern veränderliche Gruppen gibt. Eine Interpretation archäologischer Quellen mit Hilfe des Habitus-Konzeptes eröffnet die Möglichkeit, zu einem differenzierteren Blickzu gelangen. In der Praxis ist die Sache nicht so einfach: Bisher wurde dieser „Input“ aus der Soziologie in der Archäologie eher zurückhaltend aufgenommen. Die Gründe dafür und Beispiele für die bisherigen Adaptionen sind in einem älteren Beitrag hier in Archaeologik zusammengefasst:
Um den Nutzen dieses theoretischen Konzepts für die Archäologie richtig bewerten zu können, auch im Hinblick auf mögliche Schwächen, ist die Durchführung verschiedener Fallstudien an Objekten und ihres sozialen Umfeldes nötig.


Die Studie

Die Studie beschäftigt sich also durch Auswertung historischer und archäologischer Quellen mit der Frage, wie ein Alltagsgegenstand in einer vergangenen Gesellschaft als Medium der innergesellschaftlichen Kommunikation gedient hat und von wem er dazu verwendet wurde.
Der Gegenstand der Untersuchung ist der Kapuzenmantel, den geographischen und historischen Rahmen bilden die Nordwestprovinzen des Römischen Reiches und Italien von der späten Republik (ca. 1. Jh. v. Chr.) bis in die Spätantike (4. Jh. n. Chr.). Nicht zufällig wurde ein Kleidungsstück zum Untersuchungsgegenstand gewählt, denn das, was Menschen direkt auf dem Leib tragen, besitzt eine hohe Bedeutung für den Ausdruck von individuellen und Gruppenidentitäten,, also von «Habitus» - damals wie heute.

Quellen

Die Schriftquellen überliefern zahlreiche Bezeichnungen für das Kleidungsstück: "cucullus/ cucullio/ cuculio/ cuculla", "Caracalla/ Caracallus", "Paenula", "Birr(h)us/ Byrr(h)us", "Casula" und "Lacerna". Wie die Mäntel, die sich hinter den Bezeichnungen verbergen, im Detail aussahen, ist aus der schriftlichen Überlieferung nur ungenau zu rekonstruieren. Auf Basis einer Sammlung von ca. 300 archäologischen Quellen wurde eine Typologie erstellt. Dabei handelt es sich um Bildquellen; originale Exemplare sind im Untersuchungsgebiet nicht erhalten. Das Formenspektrum reicht von kurzen, schulterbedeckenden oder hüftlangen Capes bis hin zu waden- oder knöchellangen Exemplaren, die sich durch Geschlossenheit bzw. unterschiedliche Öffnungsweite an der Vorderseite unterscheiden lassen. Die Bildquellen, die herangezogen wurden, umfassen die Darstellungen realer Menschen auf Grabdenkmälern, Terrakotten und hölzernen Votivstatuetten, die Pilger zeigen. Gelegentlich sind Kapuzenmantelträger auch auf Reliefs an Ehrenbögen, Weihereliefs, Mosaiken, Wandmalereien, Glas- und Keramikgefäßen dargestellt. Diese Objektgattungen sind unterschiedlich zu bewerten im Hinblick auf ihre Funktion als Medien der Selbstrepräsentation. Grabmonumente sind in diesem Sinne als erstrangige Zeugnisse anzusehen, da sie vom Dargestellten bzw. dessen Hinterbliebenen in Auftrag gegeben wurden. Sie zeigen wie der Verstorbene gesehen werden will. Alle anderen Bildträger zeigen zumeist nicht individualisierte Darstellungen. Eine Verknüpfung der verschiedenen Bezeichnungen für Kapuzenmäntel aus den Schriftquellen mit den durch Bildquellen überlieferten Exemplaren ist kaum möglich.

Fragen an die Quellen

  • Wem dienten Kapuzenmäntel zur Kommunikation?
  • Spielen dabei bestimmte Formen von Mänteln eine Rolle?
  • Welche Botschaften werden damit transportiert?
  • Wer „liest“ die Botschaften?
  • Woher kommen die Bedeutungszuweisungen an das Kleidungsstück und wie gehen die Protagonisten mit den Bedeutungen um?

Praktische Funktion

Die praktische Funktion von Kapuzenmänteln ist der Schutz vor unangenehmen Wettereinflüssen: Kälte, Wind, Regen oder Schnee. Aber auch bei starker Sonneneinstrahlung konnten sie gute Dienste leisten (man denke hier an den arabischen Burnus). Dementsprechend trugen sie vor allem Personen, die Arbeiten im Freien nachgehen oder, die man auf der Straße trifft, z. B. die Bauern/Landarbeiter, Jäger, Fischer, Maultiertreiber, Kutscher, Soldaten, Sklaven, Gaukler und ihre Affen, Bettler. Man kann diesen Personenkreis unter der Bezeichnung "einfaches Volk" zusammenfassen. Die ‚wetterfest-Funktion’ machte Kapuzenmäntel auch zur idealen Kleidung für die Reise und so kennzeichnen sie in der römischen Kunst auch das Unterwegssein. In dieser Funktion werden sie von vielen verwendet. Ebenso sind sie als Kinderkleidung beliebt. Auch verweist der Kapuzenmantel aufgrund seiner Herkunft und Funktion auf die Völker des Nordens.

Eseltreiber aus dem 1. Jh. v. Chr aus Tarent, im Louvre, Paris
(Foto: Jastrow [PD], via WikimediaCommons)

Symbolik

Der belgische Archäologe W. Deonna hatte sich in den fünfziger Jahren bereits ausführlich mit der Symbolik von Kapuzenmänteln beschäftigt und seine Bedeutungen für den antiken Menschen herausgearbeitet. Das Anziehen des Mantels und das Überstreifen der Kapuze symbolisiert die Abgrenzung einer Person von der Umwelt sowie das Tarnen, Verbergen und Verstecken. Er ist darüber hinaus ein Symbol für die Nacht. Juvenal (6, 117-118) spricht hier vom «cucullus nocturnus» - vom mitternächtlichen Kapuzenmantel, den sich Messalina, verrufene Gattin des Kaisers Claudius überstreifte, um sich nachts unerkannt durch die Gassen Roms in ein Bordell zu begeben. Auch von anderen Persönlichkeiten der römischen Oberschicht berichten die antiken Autoren, dass sie Kapuzenmäntel zur Tarnung benutzen, um sich in ihnen unangemessenen Milieus zu bewegen. Das Kleidungsstück ist aber auch ein Symbol für Tod, Trauer, Grab und Jenseits und tritt häufig auf  Grabdenkmälern, beispielsweise auf etruskischen Urnen auf. Zugleich ist er mit dem Phallus verbunden und steht damit auch für Fruchtbarkeit und neues Leben. In der Kleinkunst gibt es zahlreiche Statuetten und bronzene Lampen mit phallischen Wesen.

Genius cucullatus: Der Priapus von Amiens (1. Jh.), aus Rivery (dép. Somme)
(Foto: Vassil [PD] via WikimediaCommons)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mus%C3%A9e_Picardie_Arch%C3%A9o_03.jpg


Von Göttern und Kapuzen – die „Dingbedeutsamkeit“

Darüber hinaus besitzt das Kleidungsstück eine sogenannte “Dingbedeutsamkeit„. Der Begriff ist ursprünglich in der Volkskunde beheimatet und bedeutet, dass Alltagsgegenstände als Zeichen für Vorstellungen aus dem Bereich der Religion, Mythologie oder Magie fungieren können. Auch die Dingbedeutsamkeit reflektiert Mentalitäten und Wertvorstellungen einer Gesellschaft. Sie kann nur verstanden werden, wenn die Kenntnis darüber weit verbreitet war, etwa durch populäre mündlich tradierte oder schriftlich überlieferte Texte (Märchen, Mythen, Legenden).
Genii cucullati und eine Göttin, Relief
im Corinium Museum von Cirencester
(Foto: Tony Crist [PD] via WikimediaCommons)

Der Kapuzenmantel in der Römerzeit verweist auf die kapuzentragenden Götter, Genien und Dämonen aus der antiken Volksreligion („genii cucullati“). Schriftquellen, die Auskunft über die Geschichten und Vorstellungen geben könnten, die die Menschen der Antike mit ihnen verbanden, sind zwar nicht überliefert; dafür sind zahlreiche bildliche Darstellungen aus dem gesamten Römischen Reiches erhalten, die jedoch ein uneinheitliches Bild im Hinblick auf ihren Charakter und Gestalt zeigen. "Genii cucullati" treten auf dem europäischen Festland als Einzelfiguren auf; in Britannien sind sie stets in Dreiergruppen dargestellt. Es handelt sich um bärtige Zwerge oder Greise. Sie sind teilweise grotesk und karikaturenhaft dargestellt. Sie tragen lange, den Körper vollständig verhüllende Mäntel, ihre Kapuzen sind stets über den Kopf gezogen. Als Attribute halten sie Schriftrollen, Geldbeutel, Früchte, Eier oder auch Schwerter in den Händen. Die Funktion dieser übernatürlichen Wesen läßt sich aber kaum entschlüsseln. Man deutete sie als Schutzgeister und Nothelfer des kleinen Mannes, Fruchtbarkeitsbringer, Todesdämonen/Totenbegleiter oder Heilgötter. Bei den Bildquellen handelt es sich zum überwiegenden Teil um Objekte der Kleinkunst aus dem Privatbereich, z. B. Lampen, Terrakotten, Statuetten. Nur in seltenen Fällen sind Zeugnisse für Verehrung im öffentlichen Bereich vorzufinden (z. B. Inschriften).

Zwei Kapuzenmantelträger in einem Bild:
Der Soldat  Firmus trägt den typischen
militärischen Kapuzenmantel,
der auf der Brust verschlossen,
aber unten weit geöffnet ist.
Sein Sklave Fuscus (u. li.) ist mit einem
kurzen Schultercape mit Kapuze bekleidet
(Grabstein aus Andernach,
RLM Bonn, CIL XIII 07684,
Epigraph. Datenbank Heidelberg HD061374).
(Foto: Xocolatl [PD] via Wikimedia Commons)

Ergebnisse


In der Analyse ließen sich in ganze Reihe von Akteuren finden, denen Kapuzenmäntel als Kommunikationsmedien dienten. Es konnten verschiedene Botschaften und Anwendungsarten identifiziert werden. Die Verwendung im Sinne des Habitus-Konzeptes ist nur eine davon. Folgende Formen sind zu unterscheiden:
  • Verwendung von Kapuzenmänteln im Sinne des Bourdieu'schen Habitus-Konzeptes.
  • Anderweitige Nutzungen von Kapuzenmänteln in der gesellschaftlichen Kommunikation.
    Hierbei ist zu unterscheiden zwischen:
    • Selbstgewählter Nutzung und
    • Zugewiesener Nutzung

Nutzung von Kapuzenmänteln im Sinne des Bourdieu'schen Habitus-Konzeptes

Das prägnanteste Beispiel bildet eine Gruppe von wirtschaftlich erfolgreichen Männern, die sich wohl im 2. und 3. Jahrhundert im nordostgallischen Raum herausgebildet haben muß. Quellen dafür sind ihre bilderreichen Grabdenkmäler, zu denen u. a. auch der berühmte Komplex aus Neumagen-Dhron (Lkr. Bernkastel-Wittlich) zählt. Y. Freigang hat sich in ihrer Dissertation bereits ausführlich mit der Selbstdarstellung dieses Personenkreises beschäftigt. Die Männer nutzten eine besondere und nur in diesem Gebiet vertretene Variante des Kleidungsstücks zur Demonstration ihres Wohlstandes und Lebensstiles sowie ihrer regionalen Identität. Es handelt sich um eine Form von Kapuzenmantel, die sich durch eine besondere Stofffülle und Faltenreichtum auszeichnet. Daneben sind es Soldaten, die Kapuzenmäntel als Kennzeichen ihrer Gruppenzugehörigkeit einsetzten. Auch hier kam eine besondere Form,  die von anderen Personenkreisen nicht verwendet wird, zum Einsatz. Dass die Mäntel nicht nur als Berufskleidung zu verstehen sind, sondern tatsächlich als Ausdruck von Lebensstil, läßt sich daran erkennen, dass die Soldaten die Mäntel auch in der Freizeit trugen.

Anderweitige Nutzungen von Kapuzenmänteln in der gesellschaftlichen Kommunikation: Selbstgewählte und zugewiesene Nutzung

Die wetterfeste Funktionalität von kurzen Schultercapes machten sich einige Händler und ein Fischer zunutze, um auf ihren Grabmonumenten ihre Praxisnähe und berufliche Kompetenz zu demonstrieren. Das Cape gehört sicher nicht zu ihren repräsentativen Kleidungsstücken, sondern wird gezielt in Szenen eingesetzt, die die Akteure in ihrer beruflichen Praxis zeigen.
Unter den Akteuren, die Kapuzenmäntel in ihrer gesellschaftlichen Kommunikation einsetzten, finden sich nicht nur Gruppen, sondern auch Individuen, wie das Beispiel des Kaisers Marcus Aurelius Severus Antoninus (188-217) gezeigt hat. Dieser lieferte mit seinem programmatischen Einsatz des Kapuzenmantels, dem er seinen Spitznamen "Caracalla" verdankt, ein weiteres sehr beredtes Exempel für die Rolle des Kleidungsstücks bei der Selbstdarstellung. Er demonstrierte damit seine Identifikation mit "dem einfachen Volk/den einfachen Soldaten". Nach dem Mord an seinem Bruder Geta ergriff er verschiedene Maßnahmen, um das Volk und die Armee zu beruhigen und auf seine Seite zu ziehen; u. a. ließ er die thermae Antoninianae in Rom vollenden und erhöhte den Sold des Militärs. In den Rahmen dieser "PR-Maßnahmen" fällt auch seine Adaption des Kapuzenmantels »Caracalla«. Außerdem berichten die Quellen, dass er die Mäntel in großem Umfang an das Volk verschenkt habe, um die Menschen zumindest äußerlich zu seinen Anhängern zu machen. Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Botschaften, die mit dem Gegenstand verbunden waren, nicht statisch, sondern veränderbar waren. Für Caracalla spielte die traditionelle Konnotation „Einfacher Soldat“ eine Rolle. Die Botschaft, die die Beschenkten aus dem Volk vermitteln sollten, lautete „Anhänger Caracallas“. Während der Kaiser als Mitglied der höchsten Kreise der römischen Gesellschaft mit dem öffentlichen und programmatischen Tragen des Kapuzenmantels noch Erstaunen und Empörung hervorrief, avancierte das Kleidungsstück in der Spätantike zum Allgemeingut. Es verdrängte sogar ein anderes stark mit Symbolik aufgeladenes Kleidungsstück der Römer: die Toga.

Zugewiesene Nutzung
Sowohl die historischen als auch die archäologischen Quellen bezeugen, dass es stets Angehörige des niederen Volk waren, die Kapuzenmäntel getragen haben. Im Einzelfall ist allerdings schwer zwischen Klischée und Alltagsrealismus zu unterscheiden.

Ein Einfluss der Dingbedeutsamkeit auf den Einsatz in der gesellschaftlichen Kommunikation ließ sich nicht nachweisen. Vielmehr zeichnete sich sogar eine Diskrepanz zwischen der Charakterisierung der Kapuzengötter als Zwerge oder groteske Figuren und den verschiedenen Botschaften ab, die die genannten »sterblichen« Akteure (Männer des nordostgallischen Raumes, Kaiser Caracalla) mit dem Kleidungsstück verbanden.
Die Bedeutungsinhalte, die einzelnen Akteure dem Kleidungsstück zuwiesen, sind letztlich mit archäologischen Quellen nur schwer zu fassen. Die schriftliche Überlieferung lässt hier eindeutigere Aussagen zu.

Ausblick


Diese Fallstudie konnte das Phänomen der Verwendung von Alltagsgegenständen als Kommunikationsmedien in einer vergangenen Gesellschaft nur schlaglichtartig beleuchten. Es bedarf weiterer Analysen anderer Objekte. Dabei muss es sich nicht nur um Kleidung handeln. Hier kommen beispielsweise Haushaltsaustattungen oder Grabinventare in Frage. In einem weiteren Forschungsansatz könnte man auch nach der Entwicklung der sozialen Symbolik des Kapuzenmantels vor dem Hintergrund des kulturellen Wandels zum Mittelalter hin fragen (vergl. Rummel 2007).

Ausgewählte Literaturhinweise

  • W. Deonna, De Télesphore au «moine bourru». Dieux, génies et démons encapuchonnés. Collèction Latomus Band 21 (Brüssel 1955).
  • Y. Freigang, Die Grabmäler der gallo-römischen Kultur im Moselland. Studien zur Selbstdarstellung einer Gesellschaft. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 44, 1, 1997, 277-440.
  • P. von Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. RGA Ergbd. 55 (Berlin 2007).
  • R. Schreg, J. Zerres, H. Pantermehl, S. Wefers, L. Grunwald, D. Gronenborn, Habitus - ein soziologisches Konzept in der Archäologie. Arch. Inf 36, 2013, 101-112 (pdf). - Vorab-Version: Rainer Schreg/ Jutta Zerres/ Heidi Pantermehl/ Steffi Wefers/ Lutz Grunwald, Habitus - ein soziologisches Konzept in der Archäologie. Archaeologik (14.12.2015).

     

Mittwoch, 18. November 2015

SABA '16

Als Nachfolge von SABA '14 nun der Call for Papers für SABA '16:
Gesucht werden Präsentationen von Studierenden der archäologischen Wissenschaften aus ganz Europa, denen es die Tagung ermöglicht, ihre Abschlussarbeiten (Bachelor, Master) zu präsentieren und sich an einem konstruktiven Diskurs zu beteiligen.  

SABA = Studentisches Archäologie-Symposium Bamberg

Sonntag, 15. November 2015

Migrationen und Völker - eine schwierige Geschichte

https://kristinoswald.hypotheses.org/1683
Ein Beitrag zur Blogparade #refhum
initiiert von Kristin Oswald
Migrationen spielen in der Geschichte zweifellos eine wichtige Rolle. Aber der gerade auch derzeit von Vielen bemühte Begriff der Völkerwanderung führt schnell in die Irre. Sowohl in der Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Flüchtlingsströmen, als auch im Verständnis der Völkerwanderungszeit am Übergang von Antike zu Mittelalter.

In der Archäologie waren Völkerwanderungen lange Zeit eine Art 'black box', wenn es darum ging, Kulturwandel, insbesondere raschen Kulturwandel zu erklären. Mangels anderer Konzepte war man schnell dabei, archäologisch beobachtbare Wandlungsprozesse aufeinander zu beziehen und eine Diffusion von einem (oder jedenfalls wenigen Zentren) anzunehmen. Die Tradition von Kulturleistungen wurde aber verengt auf die Weitergabe über Generationen entlang von Abstammungslinien. Gemischt mit der Vorstellung homogener, organisierter Gruppen auf Wanderschaft, gewann das Konzept der Völkerwanderung eine zentrale Bedeutung für die Erklärung von historischem Wandel. Die Forschung hat auf dieser Grundlage zahlreiche prähistorische Völkerwanderungen rekonstruiert.

Seit langem ist man hier freilich sehr viel sensibler geworden. Grundlegende Auseinandersetzungen archäologischer Theoriediskussion sind mit diesem Problem verbunden. Die New oder Processual Archaeology, die in der angelsächsischen Archäologie Ende der 1960er und in den 1970er Jahren entstanden ist, hatte eine wichtige Wurzel gerade in der Skepsis gegenüber diffusionistischen Modellen, die in der Regel Migrationen postuliert haben. Seit einigen Jahren ist auch in Deutschland eine grundlegende Diskussion entstanden, die zu einer deutlichen Distanzierung von einfachen Modellen der Kulturdiffusion durch Völkerwanderungen geführt hat.

Zwei Aspekte treffen hier zusammen: nämlich einerseits die Wahrnehmung und Charakterisierung von Migration und andererseits das Denken in Begriffen von Volk und homogenen „Kulturen“. Dazu seien hier nur einige Gedanken und Beobachtungen angeführt.

Der Begriff von Volk und Nation als Problem

Berlin, Alexanderplatz, 4.11.1989:
"Volk" als Mehrheit und Souverän eines Staates
(Foto T. Lehmann, Bundesarchiv,
Bild 183-1989-1104-008
[CC-BY-SA 3.0]
via Wikimedia Commons)
Die Begriffsgeschichte von "Volk" ist komplex. Mehrere Bedeutungsebenen durchdringen sich in ihm (Koselleck u.a. 1978): Einerseits die Bedeutung als "Staatsvolk", andererseits als "Volksmasse". In den unterschiedlichen Kontexten des Slogans „Wir sind das Volk!“ 1989 und 2015 werden diese beiden Pole des Volksbegriffs deutlich. Ging es 1989 um den demokratischen Aspekt von „Volk“ im Sinne des Souveräns moderner Staaten, so steht bei den Anti-Flüchtlings-Demonstranten des Jahres 2015 der national abgrenzende Aspekt im Vordergrund.

Generell spielen bei der Begrifflichkeit von „Volk“ oben-unten Relationen, ebenso wie innen-außen-Relationen eine wichtige Rolle, weshalb "Volk" in der Wahrnehmung eine abgrenzbare Personengemeinschaft darstellte, entweder gegenüber einer Elite oder gegenüber den Nachbarn. Mit der Demokratisierung seit der Französischen Revolution gewinnt der Begriff des Volks einen umfassenden Anspruch, wo vorher in der Wahrnehmung Stände und Klassen oder andere Gruppierungen die Wahrnehmung bestimmten. Der lateinische Begriff der natio - eigentlich "Geburt" - impliziert eine gemeinsame, weit zurückliegende Herkunft. Im deutschen Sprachraum, wo Latein viel länger als beispielweise in Frankreich oder auf den britischen Inseln Bildungs- und Verwaltungssprache blieb, näherten sich die Begriffe von Volk und Nation einander an, so dass Volk stärker als eine klar abgegrenzte, auf Urzeiten zurückreichende Gemeinschaft verstanden wurde. Bereits mit dem Humanismus des 15. Jahrhunderts hatte man begonnen, die modernen Volksbegriffe der damaligen Gegenwart mit den antiken Bezeichnungen gleichzusetzen: Gallier = Franzosen, Germanen = Deutsche, obgleich sich keinerlei chronologische Berührungspunkte ergeben, die wenigstens einen durchgehenden Traditionsstrang begründen könnten. Die Bezeichnung deutsch meinte dabei ursprünglich nur allgemein die nicht-lateinische Sprache und wurde erst sekundär auf Land und dann auf Leute übertragen.
 

Ethnische Interpretationen in der Archäologie

Vor allem im 19. Jahrhundert wurden die Völker zu einer dominierenden Größe der Geschichtsdeutung. Sie wurden Bezugspunkt der Narrative z.B. als "Geschichte der Deutschen" und verschoben deren Anfänge weit in die Vergangenheit zurück. Da die antiken Quellen die Stammesbegriffe eben nicht im modernen Sinne verwendeten, können sie auch nicht die Frage nach der Genese der modernen Völker klären. Diese Aufgabe fiel daher rasch an die Archäologie.
Die Frage der ethnischen Interpretation hat so bald einen erheblichen Stellenwert im Fach bekommen. Schon frühe Arbeiten, wie die Auseinandersetzung von Ludwig Lindenschmit mit dem Gräberfeld von Selzen, oder Rudolf Virchows germanische Interpretation der bronzezeitlichen Lausitzer Kultur haben ethnische Interpretationen geleistet.
Gustaf Kossinna (1858-1931)
(nach Reinerth 1940)
Aber erst mit einem zunehmend chauvinistischen und rassistischen Nationalismus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wurde Archäologie zu einer "hervorragenden nationalen Wissenschaft", weil es Nation in der Vergangenheit definieren und ihr Größe geben konnte. Vor allem Gustaf Kossinna prägte weite Teile des Faches mit seiner Lehre, dass archäologische Sachkultur stets Völker widerspiegele. Das war allerdings eine damals weit verbreitete These, die man beispielsweise auch in der Volkskunde speziell in der damaligen Bauforschung antrifft (z.B. "alemannisches Fachwerk"). Man meinte also, mit archäologischen Quellen die in den Schriftquellen fassbaren Völker in die Vergangenheit zurück verfolgen zu können, indem man über die typologische Entwicklung der Sachkultur sich in die Vergangenheit zurück tastete. Wo dies nicht funktionierte, wurden Kulturträger zu Völkern erhoben, wie "die Bandkeramiker" oder "die Schnurkeramiker". Bezüge über verschiedene Landschaften mussten so zwangsläufig zum vermeintlichen Nachweis von Migrationen führen.


Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Völkerstammen.“
(Gustaf Kossinna)



In der deutschen Forschung wurden so die Germanen bis mindestens in die Bronzezeit zurückdatiert und umfangreiche vorgeschichtliche Wanderungen rekonstruiert. Damit wurden auch ehemalige germanische Siedlungsgebiete bestimmt, die in der nationalsozialistischen Eroberungspolitik gerne als propagandistisches Argument für deutsche Gebietsansprüche  hergenommen wurden (Graben für Germanien 2013).


(aus Reinerth 1940 Bd. 1, Abb. 2b)

Die archäologische Forschung der Nachkriegszeit hat – in West- wie Ostdeutschland – Fragen der Migration weitgehend gemieden. Lediglich in der Frühgeschichte, wo man Völkerwanderung auf Grundlage der Schriftquellen für gegeben hielt, blieb die Vorstellung von Wanderungen als entscheidender Faktor kulturgeschichtlichen Wandels dominierend. Dementsprechend bedeutungsvoll sind hier ethnische Interpretationen bis heute. Die Mehrzahl der Literatur betrifft indes Einzelsituationen oder gar die ethnische Zuweisung einzelner Fundgruppen, aber kaum eine grundsätzliche Diskussion der Rolle und Nachweisbarkeit von Wanderungen oder die Frage alternativer Erklärungen für kulturellen Wandel (erst in jüngerer Zeit: Prien 2005). In der Frühgeschichtsforschung hat die 1977 erschienene Arbeit von Reinhard Wenskus zwar klargestellt, dass es sich bei den Völkern und Stämmen der Völkerwanderungszeit nicht um biologische Abstammungsgemeinschaften handelt, sondern zumindest eine weitere Definition von Ethnos anzuwenden ist. Die Frage, ob und wie solche Gruppen jenseits ihrer textlichen Nennung konkret zu erfassen sind, blieb ebenso offen, wie die Frage nach ihrer Bedeutung.
Ethnische Interpretationen spiegeln allzu leicht Kontinuitäten, Migrationen und Identitäten vor, wo vielleicht gar keine oder ganz andere da sind. Kontinuitäten, Migrationen und Identitäten sind wichtige Aspekte, um Vergangenheit zu verstehen, aber dazu müssen sie jeweils auch kritisch hinterfragt und genauer charakterisiert werden. Da steht die eigene Begrifflichkeit im Weg.
Die Frage nach ethnischen Identitäten ist dabei keineswegs grundsätzlich falsch, aber wir dürfen sie nicht voraussetzen, sondern müssen danach fragen, was denn zu den Mustern in der archäologischen Überlieferung führt, die wir dann als Kulturen und den Niederschlag von Völkern oder Stämmen verstehen.


Geschichte ohne "Germanen"?


Indes haben einige Historiker schon lange festgestellt, dass die Begriffe wie "Germanen" oder "Kelten" in unserem heutigen Verständnis für die Vergangenheit anachronistisch und für ein Verständnis der Geschichte eigentlich auch obsolet sind.

Provokativ hat der Historiker Jörg Jarnut gefragt:
"Was sollen wir von einem historischen Begriff halten, der eine Großgruppe entweder voraussetzt oder aber konstituiert, die es wohl nie gegeben hat, die sich selbst jedenfalls nie als solche empfand und dementsprechend sich auch niemals so bezeichnete?
Wie sollen wir mit einem Begriff umgehen, den vor mehr als zweitausend Jahren Caesar als Konstrukt wenn schon nicht erfunden, so dann doch zumindest populär und für seine politischen Ziele dienstbar gemacht hat? Einem Begriff, der dann seit dem Beginn der Neuzeit zwei Dutzend Generationen von vornehmlich deutschen, von ihrer eigenen Gegenwart frustrierten Intellektuellen, Professoren und anderen Schulmeistern eine Goldgrundvergangenheit anbot, auf die sich das Kämpferische, Heldische, Starke, Große, Gute, Edle, Schöne und Reine so wunderbar projizieren ließ, das man in der eigenen Welt so schmerzlich vermißte? Und: Wie stellen wir uns zu einem Begriff, der als gebieterisches rassistisches Attribut mit dem Konzept des Herrenmenschen verbunden die massenhafte, industriell organisierte Ermordung nichtgermanischer sogenannter ‚Untermenschen‘ geistig vorbereiten und begleiten konnte?"
(Jarnut 2004, 107)



Das Problem der Begriffe liegt darin, dass sie im Lauf der Zeit ihre Bedeutung erheblich gewandelt haben. "Germanen" sind ein Begriff den Caesar nach seinen politischen Interessen im 1. Jh. v. Chr. definiert und Tacitus im 1. Jahrhundert n.Chr. aufgegriffen hat. Gerade in der Völkerwanderungszeit, die heute so sehr mit dem Begriff der Germanen verbunden wird,  ist dieser in den römischen Quellen eben nicht zu fassen. Dort, wo er später auftritt, ist er ein literarisches Zitat, das vor allem dem römischen Publikum einen Anknüpfungspunkt bieten sollte, um Ereignisse im fernen Norden grob einzuordnen. Differenzierung war hier nicht gefragt. Für die konkreten zeitgenössischen Gruppen sind die sog. Stammesbezeichnungen der Goten, Franken, Vandalen etc. gebräuchlich, die eben nicht als Germanen bezeichnet werden. Viele dieser Gruppen bilden sich erst in der Auseinandersetzung mit Rom und spielen dabei auch mit Traditionen, die in der Auseinandersetzung mit Rom ein mächtiges politisches Statement bieten. Wenn in der Spätantike Bevölkerungsgruppen als Langobarden angesprochen werden, so sagt dies keineswegs aus, dass diese Gruppe tatsächlich ihre Wurzeln in Skandinavien hatte, wo Tacitus einen Stamm des Namens im 1. Jahrhundert bezeugt. Der Name ist vielmehr eine Drohung gegenüber Rom. Dadurch, dass man den Namen eines  Stammes aufgreift, der in älteren literarischen Texten, ebenso wie Goten und Sueben im Norden lokalisiert wird, stellt man sich gegen Rom. Der Name richtet sich nicht auf eine gemeinsame Vergangenheit, sondern er ist zunächst programmatisch in die Zukunft gerichtet, denn er spielt mit damals gängigen Bildern der Völker des Nordens. Völker aus dem Norden galten als besonders kriegerisch und im alten Testament wird prophezeit, dass dereinst ein großes Reich durch Völker aus dem Norden zerstört würde (Kochanek 2004; Plassmann 2006; Steinacher 2011).

Überhaupt: Die klassischen merowingerzeitlichen Reihengräberfelder mit ihrer charakteristischen Ausstattung in Frauen- wie in Männergräbern, die man lange als typisch 'germanisch' bezeichnet hat, haben ihre Hauptverbreitung auf ehemals römischem Reichsgebiet, jenseits des alten Limes sind sie weitgehend unbekannt. Eine neue, m.E. duchaus plausible These setzt denn auch an die Stelle der Vorstellung einer Zuwanderung die eines Wertewandels (Rummel 2007): Durchaus unter dem Eindruck einer zunehmenden Unsicherheit der Grenzen und einer auch damals als Bedrohung wahrgenommenen Zuwanderung, sinkt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des römischen Staates, gerade in den Grenzregionen. Man setzt nicht mehr auf die alten römischen Eliten, sondern auf das Militär. Eine Art Militarisierung der Gesellschaft führt dazu, dass nun das Ideal des Kriegers in den Vordergrund tritt - das sind nicht selten angeheuerte 'Migranten', denen so eine Karriere im römischen Reich ermöglicht wird. Die Dynamik, die hier in Gang kommt, ist mit den Volks- und Stammesbegriffen nicht wirklich zu verstehen, sehr viel genauer muss hier auf die sozialen Verhaltensformen und politischen Schachzüge geschaut werden.

Germanen gelten daher vielen jüngeren Archäologen und Historikern als obsolet und als "Mythos" (Wiwjorra 2006) und tatsächlich scheinen sie komplexe historische Abläufe eher zu verschleiern, als zu ihrem Verständnis beizutragen. Ansätze, die Geschichte der Spätantike ohne die problematische Vorstellung von "Volk" und konkret "Germanen" zu schreiben, sind inzwischen in einiger Zahl vorhanden (z.B. Rummel 2007), aber natürlich sind sie noch relativ neu und vielfach bisher eher tastend und durchaus nicht immer schon überzeugend. Es wird einfach auszuprobieren sein, wie weit uns das Experiment Geschichte der Völkerwanderungszeit führt. Ein detailliertes, aber eben kritisches Bild wird sicher erst einmal durch ein wesentlich schemenhafteres ersetzt, das leicht als Rückschritt und Wegwerfen erreichter Erkenntnisse missverstanden werden kann. Es ist tatsächlich schwierig, auf die Begriffe "Germanen" und "Kelten" zu verzichten. Wer sind die Leute, die in der Spätantike in Mitteleuropa Rom gegenüber stehen? Formulierung wie "die rechtsrheinisch ansässige Bevölkerungen der römischen Kaiserzeit" wären zwar vielfach korrekter, aber sie sind eben eher unpräzise Wortungetüme und sind kaum in eine Öffentlichkeit zu kommunizieren, für die "Kelten", "Germanen" etc. eben immer noch entscheidende Größen des Geschichtsbildes sind.
 

Eine fachinterne Auseinandersetzung


Seit Jahren tobt deshalb in der deutschen Archäologie ein Streit um die ethnische Interpretation, die unter dem Eindruck der schriftlichen Quellen in der Nachkriegszeit vor allem die Frühgeschichtsforschung bestimmt hat. Viele ältere Kollegen insbesondere der archäologischen Frühgeschichtsforschung sehen sich durch die skeptischen Thesen, wie sie vor allem im Umfeld von Sebastian Brather in Freiburg in den vergangenen Jahren entwickelt wurden, persönlich angegriffen. Für sie steht der Vorwurf im Raum, dass sie sich auch nach der NS-Zeit rassistischer und nationalistischer Ansätze bedient hätten. Umgekehrt sehen sie die neuen Ansätze als "germanophob" und eben ihrerseits rassistisch, da sie den Germanen die Existenzberechtigung absprächen. Auch wurde geäußert, die Archäologie würde sich als Geschichtswissenschaft aufgeben, wenn sie nicht weiter nach ethnischen Interpretationen strebe (Bierbrauer 2004).
Es ist nicht Sinn dieses Beitrags, diese archäologische Diskussion im Einzelnen zu analysieren. Sie ist bis zu einem gewissen Grade wohl der normale Generationenkonflikt, geladen mit einer gehörigen Portion gegenseitigen Missverstehens. Die Schärfe der Diskussion (bzw. Diskussionsverweigerung) zeigt aber schon, dass es hier letztlich um ganz Grundsätzliches geht: Welchen Stellenwert haben Völker und Völkerwanderungen in unserem fachlichen Geschichtsverständnis?
 

Wer oder was treibt Geschichte an?

Der große Stellenwert, den die ältere Generation den Migrationen und der ethnischen Interpretation zubilligt, ist wahrscheinlich eine Folge eines traditionellen Geschichtsverständnisses. Diese Pauschalisierung ist schwierig, denn hier kann man derzeit nur auf wenige einschlägige Äußerungen in der Literatur zurückgreifen, so dass man allenfalls auf eher diffuse, allgemeine Eindrücke oder auf einige wenige persönliche Gespräche zurückgreifen kann. In der Regel aber wurden und werden die grundlegenden Vorstellungen vom Charakter und von den „Triebkräften“ der Geschichte nicht thematisiert. Sie scheinen meist viel zu selbstverständlich. Diejenigen, die es doch getan haben, sind nicht zwingend repräsentativ.
Zum Thema hat sich beispielsweise Hermann Müller-Karpe (1925-2013) geäußert, indem er im Vorwort zu seinem mehrbändigen Werk „Grundzüge früher Menschheitsgeschichte“ sein Geschichtsbild dargelegt hat (Müller-Karpe 1998). Aus seinen Äußerungen, wie auch aus seinen Referenzen wird deutlich, dass es entscheidend im Historismus des 19. und frühen 20. Jahrhundert wurzelt. Er betont die augenscheinliche Bedeutung politischer Strukturen und Geschehnisse, die Idee des Primats des Staates, „die Identität und Individualität der historischen Erscheinungen" (Müller-Karpe 1998, Bd. I, XV). Damit benennt er die wesentlichen Merkmale des historistischen Denkens, das schon früh von kulturgeschichtlichen Ansätze in Frage gestellt wurde und zu heftigen theoretischen Debatten in den deutschen Geschichtswissenschaften geführt hat, die von der Archäologie aber nicht rezipiert wurden.
Müller-Karpe machte diese Ausführungen wohl vor allem deshalb, weil er in einem persönlichen Dilemma steckte. Als Direktor der damaligen Kommission für Allgemeine und vergleichende Archäologie hatte er ein Konzept zu vertreten, das seiner Überzeugung offenbar zuwider lief. Es wird deutlich, dass er einem vergleichenden Ansatz sehr skeptisch gegenüber stand und wie der Historismus eigentlich der Meinung war, dass jede Epoche einzigartig und aus sich heraus zu verstehen sei. Ein vergleichender, komparatistischer Ansatz ist hingegen kennzeichnend für Ansätze der Kulturanthropologie, die eher an den Strukturen als an den spezifischen Einzelsituationen und konkreten Ereignissen und Personen interessiert ist. Ihre Ablehnung als antihistorisch ist (z.B. Fehring 2000) – neben der Äußerung, die Archäologie würde sich als Geschichtswissenschaft aufgeben, wenn sie nicht weiter ethnische Interpretationen vornehme – ein weiterer Hinweis darauf, dass das historistische Denken in der Archäologie jedenfalls noch vor ein paar Jahren dominierend war.

Nun gibt es längst andere Vorstellungen über den Charakter historischen Wandels, der anderen Faktoren der Sozial-, Wirtschafts- und Klimageschichte mehr Raum gibt und auf den ersten Blick den Menschen in ein Netzwerk unterschiedlichster Zwänge stellt. Von traditionellen Historikern kommt hier gelegentlich der Vorwurf, einem Determinismus oder einer materialistischen Sichtweise verfallen zu sein und den handelnden Menschen und die Rolle seiner Ideen zu wenig zu berücksichtigen. Umgekehrt gilt dies aber auch für Erklärungsmodelle historischen Wandels. Es ist nicht weniger deterministisch, die Menschen auf ihre Volkszugehörigkeit zu reduzieren und die dahinter stehenden sozialen Prozesse auszublenden.

Migration als Erklärungsmodell für Kulturwandel?


Migrationen sind als Erklärungsmodell für Kulturwandel viel zu einfach. Klar ist, dass es in der Vergangenheit viele Migrationen gegeben hat (vergl. Archaeologik 28.10.2015). Die Genetik erschließt hier eine neue Quelle, doch muss sie sehr darauf achten, nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und genetische Abstammungsgruppen unreflektiert mit Sprachgruppen oder mit Völkern gleichzusetzen. Es gibt eben nicht ein „keltisches“ oder „germanisches“ Gen, sondern allenfalls Populationen, in denen statistisch bestimmte DNA häufiger vertreten ist als anderswo.
Migrationen sind auch selten echte Völkerwanderungen, bei denen zentral organisiert ganze Völker und Stämme sich auf den Weg machen. Das ist ein Narrativ, das sich in der antiken Literatur etwa für die "Keltenwanderungen" nach Italien, den Auszug der Helvetier aus ihren angestammten Gebieten in Südwestdeutschland und der Schweiz um 60 v.Chr. und schließlich für die zahlreichen Bevölkerungsverschiebungen der Völkerwanderungszeit findet. Tatsächlich stehen dahinter sehr unterschiedliche Formen von Migration und man wird davon ausgehen können, dass sie vielfach auf der Ebene der Familien entschieden wurden. Aus der Sicht der meist römischen Schriftsteller war das nicht von Interesse – und auch Julius Caesar konnte einen Krieg gegen die Helvetier sicherlich schon damals besser rechtfertigen, wenn er in Rom als Krieg gegen einen mächtigen Stamm und nicht gegen Flüchtlinge wahrgenommen wurde.
In der Völkerwanderungszeit am Übergang von Antike zu Mittelalter sind es ebenfalls weniger „Völker“ die auf Wanderung gehen, als vielmehr kleine Gruppen, die sich erst im Lauf der Zeit zusammenfinden und sich organisieren. Viele der Wanderungen der Völkerwanderungszeit sind militärische Truppenverlagerungen, andere sind wohl tatsächlich als Flucht von Familien zu verstehen. 
 

Völkerwanderung heute?

Flüchtlingsströme am Grenzübergang Gevgelija, Mazedonien
(Foto: Dragan Tatic,
österr. Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres
[CC BY 2.0] via Wikimedia Commons)
Es wird deutlich, dass viele der Kategorien, die heute bemüht werden, um die aktuellen Flüchtlingsströme einzuordnen, selbst kaum verstanden sind. Die Vorstellung von Völkern und Völkerwanderung steht einer genaueren Analyse der Problematik eher im Wege und kann wenig erklären. Hier muss man sehr viel mehr auf die beteiligten Menschen und ihre individuellen Motive sehen.

Was aus einem Vergleich mit der Völkerwanderungszeit  vielleicht zu lernen ist: Migranten und Ortsansässige mögen sich vielleicht zuvor nicht persönlich begegnet sein, aber ihre Geschichte war schon zuvor eng verwoben. In der Völkerwanderungszeit stattfindende Prozesse der  Ethnogenese wären ohne die lange Auseinandersetzung mit Rom kaum denkbar - ebenso, wie es die derzeitigen Krisen im Nahen Osten und in Afrika und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme ohne eine lange, verfehlte westliche Politik in diesen Regionen wohl auch nicht gäbe.


Literaturhinweise

  • Bierbrauer 2004: V. Bierbrauer, Zur ethnischen Interpretation in der frühgeschichtlichen Archäologie. In: W. Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8 (Wien 2004) 45–84.
  • Brather 2004: S. Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. RGA Ergbd. 42 (Berlin: de Gruyter 2004).
  • Fehring 2000: G. P. Fehring, Die Archäologie des Mittelalters. Eine Einführung (Stuttgart: Theiss 2000). 
  • Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz (Darmstadt: WBG 2013). - ISBN 9783534259199
  • Jarnut 2004: J. Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: W. Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8 (Wien 2004) 107–113. 
  • Kochanek 2004: P. Kochanek, Die Vorstellung vom Norden und der Eurozentrismus: eine Auswertung der patristischen und mittelalterlichen Literatur.  Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz  205 (Mainz: von Zabern 2004). - ISBN 3-8053-3456-7
  • Koselleck u.a. 1978: R. Koselleck/ F. Gschnitzer/ K.F. Werner/ B. Schönemann, Volk, Nation. In: O. Brunner/ W. Conze/ R. Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe 7 (Stuttgart: Klett-Cotta 1978 [Nachdruck 2004]). - ISBN 3608915001
  • Müller-Karpe 1998: H. Müller-Karpe, Grundzüge früher Menschheitsgeschichte (Stuttgart: Theiss 1998).
  • Plassmann 2006: A. Plassmann, Origo gentis: Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. Orbis medievalis 7 (Berlin: Akademie-Verlag 2006). - ISBN 978-3-05-004260-2
  • Prien 2005: R. Prien, Archäologie und Migration. Vergleichende Studien zur archäologischen Nachweisbarkeit von Wanderungsbewegungen, Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie 120 (Bonn: Habelt 2005). - ISBN 3-7749-3327-8
  • Reinerth 1940: H. Reinerth, Vorgeschichte der deutschen Stämme (Leipzig, Berlin: Bibliographisches Institut/ Stubenrauch 1940).
  • Rummel 2007: Ph. v. Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. RGA Ergbd. 55 (Berlin: de Gruyter 2007). 
  • Steinacher 2011: R. Steinacher, Wiener Anmerkungen zu ethnischen Bezeichnungen als Kategorien der römischen und europäischen Geschichte. In: St. Burmeister/N. Müller-Scheeßel (Hrsg.), Fluchtpunkt Geschichte. Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog (Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2011) 183-206. - academia.edu
  • Wenskus 1977: R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frühmittelalterlichen Gentes (Köln, Wien : Böhlau 1977). - ISBN 3412001775
  • Wiwjorra 2006: I. Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Darmstadt: WBG 2006). - ISBN 9783534190164

Nachtrag (20.12.2015):
kleinere formale Korrekturen im Text

Nachtrag (9.2.2017):
kleinere formale Korrekturen im Text



http://web.rgzm.de/
Rainer Schreg, RGZM. Im Rahmen des neuen Forschungsfeldes "Gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Dynamiken"  gehen wir der Frage nach, welche Faktoren zu gesellschaftlichem Wandel führen - und versuchen damit hinter die Kulisse vermeintlicher Kontinuitäten zu blicken.

Mittwoch, 11. November 2015

Sternentor funktioniert nicht mehr! Archäologen sind schuld!

Göbekli Tepe 2012
(Foto: Zhengan, [CC BY SA 4.0] via Wikimedia Commons)
Manche archäologische Fundstellen ziehen parawissenschaftlichen Nonsens magisch an. Stonehenge zum Beispiel. Aber auch die Fundstelle von Göbekli Tepe in der Türkei mit ihrer herausragenden vorneolithischen Kunst und Architektur. Archäologen sollen nach einer verbreiteten Theorie von Phantasten da mit ihren Ausgrabungen ein Sternentor zerstört haben, durch das man an einen anderen Ort außerhalb der uns bekannten Erde gelangen kann. Archäologen graben in Göbekli Tepe so langsam, weil sie das Geheimnis des Stargates nicht preis geben wollen, das meint z.B.:
ArchPhant zu Sternentoren mit einem Interview mit Jens Notroff:

Literatur/Link zu Göbekli Tepe

  • Die ältesten Monumente der Menschheit. Grosse Landesausstellung Baden-Württemberg 2007. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Stuttgart: Theiss 2007). - ISBN 9783806220728
  • Internet.Seite des DAI zum Projekt

Montag, 9. November 2015

Donnerstag, 5. November 2015

Landnutzung und Siedlungsentwicklung im Umfeld des Karlsgrabens. Scherbenschleier als archäologische Quelle

Beitrag von Tamara Ruchte, Larissa Schulz und Lukas Werther


Oberflächenfunde dienen meist ausschließlich der Lokalisierung von archäologischen Fundstellen im engeren Sinne. Ihr Aussagewert für Fragen der Landnutzung und Landschaftsentwicklung, die über die Ebene einzelner Fundstellen hinausgehen, wird vielfach nicht erkannt. Vor allem Oberflächenfunde des Mittelalters und der Neuzeit werden häufig nicht als archäologische Quellen verstanden, bei Begehungen nicht geborgen oder zumindest nicht sorgfältig dokumentiert. Aktuelle Forschungen im Umfeld des Karlsgrabens zeigen exemplarisch das Potential einer systematischen Bearbeitung dieser Quellengruppe.
 

Arbeitsgebiet und Projektrahmen

Seit Frühjahr 2013 wurden im Umfeld des frühmittelalterlichen Karlsgrabens (Mittelfranken) mit einem Team aus Studierenden und Ehrenamtlichen in mehreren Kampagnen sehr große Ackerflächen systematisch begangen. Ausgangspunkt der Prospektionsarbeiten war die Analyse der lokalen Siedlungslandschaft und Verkehrsinfrastruktur im Umfeld des Kanalbauwerkes, das seit 2012 in einem DFG-geförderten Projekt untersucht wird (Werther 2014; allgemein Ettel u.a. 2014). Neben Aussagen zum Frühmittelalter und zu möglichen vorgeschichtlichen Fundstellen ermöglicht das Fundmaterial allerdings auch die Analyse und Rekonstruktion der hoch- und spätmittelalterlichen bis neuzeitlichen Landnutzung und Siedlungsgenese. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich ein wesentlicher Teil des Scherbenschleiers auf den Feldern aus sekundär verlagerten Funden zusammensetzt, die durch (Mist-)Düngung aus den Siedlungen auf die Äcker gelangten. Bislang wurde im deutschsprachigen Raum kaum systematisch untersucht, wann dieser Scherbenschleier entstand und welche Prozesse dafür verantwortlich sind (vgl. Schreg 2013; Jones 2004; Jones 2009; Jones 2012; Dyer 1990; Hayes 1991). Der vorliegende Beitrag soll erste Ergebnisse im Sinne eines Arbeitsberichts vorstellen und einen kleinen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke leisten. Vor der eigentlichen Publikation soll so auch eine Grundlage für die Diskussion der Thematik mit allen Interessierten geschaffen werden.
 

Methodik

Die Begehungsflächen mit einem Umfang von deutlich über 100ha verteilen sich in einem Streifen von 500m beiderseits des Karlsgrabens. Durch Begehung von 2m breiten Streifen im Abstand von 8m wurden jeweils 25% der Feldoberflächen systematisch abgesucht. Erfasst wurden dabei Artefakte jeglicher Art und Zeitstellung – von bearbeiteten Steinen über Keramik und Ziegel bis hin zu modernen Verpackungsmaterialien. Auf den Äckern fand also keine Vorselektion des Fundmaterials statt. Die Einmessung jedes Fundpunktes erfolgte zentimetergenau mit Hilfe eines Differential-GPS. An jedem Fundpunkt wurden Objekte aus dem Umkreis von etwa 1m in einer Tüte zusammengefasst und gemeinsam eingemessen. Aktuell (Stand Herbst 2015) umfasst das Fundinventar knapp 15.000 Fundtüten, von denen bislang knapp 9000 inventarisiert wurden (Abb. 1).


Abb. 1: Arbeitsstand der Begehungen im Karlsgrabenumfeld. Grün: inventarisierte Funde, Rot: noch nicht inventarisierte Funde (Stand September 2015) Geobasisdaten © Bayerisches Landesamt für Vermessung und Geoinformation 2012, mit freundlicher Genehmigung.

Die detaillierte Aufnahme des Materials dieser ca. 9000 Tüten mit insgesamt 16.715 Einzelobjekten bildet die Grundlage der vorliegenden Auswertung. Auf dieser Basis ist es möglich, erste Entwicklungslinien von Landnutzung und Siedlungsentwicklung im Umfeld des Karlsgrabens nachzuzeichnen. Nach Abschluss der Begehungen und der vollständigen Inventarisierung wird die Gesamtanalyse erfolgen. Wesentliche Aspekte der Quellenkritik, insbesondere der Faktor erosiver Materialverlagerungen und anderweitiger Fundstellenüberdeckungen, können erst in die Gesamtanalyse einfließen.

Dienstag, 3. November 2015

Wir sind nicht hilflos! Ansatzpunkte zum Kulturgüterschutz

Markus Hilgert zählt in einem Beitrag in 12 Punkte ("12C") auf, die einen Ansatz bieten können, Plünderungen und Zerstörungen archäologischer Stätten zu bekämpfen.

Die 12 Punkte sind:
Markus Hilgerts 12 C
vorbeugende Maßnahmen
1. Priorisierung der zu erhaltenden Kultur- und Naturgüter
2. Konkrete, auf den Einzelfall zugeschnittene Notfallpläne
3. umfassende Inventarisierung und nach Möglichkeit Digitalisierung materieller Kultur- und Naturgüter.
4. Kriminalitätsprävention und Kriminalitätsbekämpfung
konkrete Reaktionen auf akute Bedrohungsszenarien
5. systematische Aufklärung auch mit Hilfe von Satellitensystemen zum aktuellen Zustand von Kultur- und Naturgütern- Aufbau entsprechender Kommunikationsstrukturen
6. zivilgesellschaftliche Experten- und Unterstützungsnetzwerke vor Ort
7. Interventionsteams von Experten, die je nach Situation über alle zur Dokumentation und zum optimierten Schutz notwendigen Kompetenzen verfügen
8. Einbindung auch möglicher zukünftiger Stakeholder – z. B. militärische und lokale Autoritäten sowie geistliche Führerin die Netzwerke
 Schaffung langfristiger Rahmenbedingungen
9. Schaffung von national oder supranational operierenden, miteinander vernetzten Institutionen, in denen die für die Umsetzung der Schutzmaßnahmen erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten koordiniert und von den beteiligten Staaten bzw. Organisationen gemeinsam genutzt werden ("core facilities")
10. "cooperative funding models": in Ergänzung zur staatlichen oder NGO getragenen Fianzierung auch alternative oder kooperative Finanzierungsmodelle wie etwa das crowd funding
11. change management
12. Cyber heritage resorts: ein weltweites Netzwerk von Repositorien, in denen die 3D-Modelle von beweglichen und unbeweglichen Kultur- und Naturgütern langfristig gespeichert werden



Raubgräber im Isin, Irak
(Foto: US Departmenr of Defense [Public Domain],
via Wikimedia Commons)
Hilgert betont die globale Dimension des Themas und der Lösungsansätze und in der Tat setzen die meisten der 12 Punkte auf der internationalen Ebene an. Dieser internationale Handlungsrahmen für eine Eindämmung von Plünderungen archäologischer Stätten steht außer Frage, muss aber wohl dennoch immer wieder betont werden. Die Verantwortung liegt nicht in den Herkunftsländern, sondern ist in der Tat international. Damit darf der Handlungsbedarf und -spielraum auf der jeweils eigenen nationalen Ebene nicht aus dem Auge verloren werden. Auf nationaler Ebene müssen internationale Richtlinien und Erwartungen auch umgesetzt werden. Darum muss die künftige deutsche Gesetzgebung den Handel mit Raubgrabungsgut effektiv unterbinden und internationale Standards einhalten. Die Novellierung des deutschen Kulturgutschutzgesetzes darf hier nicht wieder versagen, ist aber leider auf dem besten Wege genau dahin (vergl. Archaeologik [7.10.2015] und Archaeologik [24.9.2015]).

Es ist wichtig, diese Handlungsspielräume zu erkennen und unverzüglich zu nutzen. Dennoch muss darüber auch noch diskutiert werden, denn die vorgeschlagenen Maßnahmen werfen doch die Frage auf, ob sie wirklich den Kern des Problems treffen.