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Donnerstag, 5. November 2015

Landnutzung und Siedlungsentwicklung im Umfeld des Karlsgrabens. Scherbenschleier als archäologische Quelle

Beitrag von Tamara Ruchte, Larissa Schulz und Lukas Werther


Oberflächenfunde dienen meist ausschließlich der Lokalisierung von archäologischen Fundstellen im engeren Sinne. Ihr Aussagewert für Fragen der Landnutzung und Landschaftsentwicklung, die über die Ebene einzelner Fundstellen hinausgehen, wird vielfach nicht erkannt. Vor allem Oberflächenfunde des Mittelalters und der Neuzeit werden häufig nicht als archäologische Quellen verstanden, bei Begehungen nicht geborgen oder zumindest nicht sorgfältig dokumentiert. Aktuelle Forschungen im Umfeld des Karlsgrabens zeigen exemplarisch das Potential einer systematischen Bearbeitung dieser Quellengruppe.
 

Arbeitsgebiet und Projektrahmen

Seit Frühjahr 2013 wurden im Umfeld des frühmittelalterlichen Karlsgrabens (Mittelfranken) mit einem Team aus Studierenden und Ehrenamtlichen in mehreren Kampagnen sehr große Ackerflächen systematisch begangen. Ausgangspunkt der Prospektionsarbeiten war die Analyse der lokalen Siedlungslandschaft und Verkehrsinfrastruktur im Umfeld des Kanalbauwerkes, das seit 2012 in einem DFG-geförderten Projekt untersucht wird (Werther 2014; allgemein Ettel u.a. 2014). Neben Aussagen zum Frühmittelalter und zu möglichen vorgeschichtlichen Fundstellen ermöglicht das Fundmaterial allerdings auch die Analyse und Rekonstruktion der hoch- und spätmittelalterlichen bis neuzeitlichen Landnutzung und Siedlungsgenese. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich ein wesentlicher Teil des Scherbenschleiers auf den Feldern aus sekundär verlagerten Funden zusammensetzt, die durch (Mist-)Düngung aus den Siedlungen auf die Äcker gelangten. Bislang wurde im deutschsprachigen Raum kaum systematisch untersucht, wann dieser Scherbenschleier entstand und welche Prozesse dafür verantwortlich sind (vgl. Schreg 2013; Jones 2004; Jones 2009; Jones 2012; Dyer 1990; Hayes 1991). Der vorliegende Beitrag soll erste Ergebnisse im Sinne eines Arbeitsberichts vorstellen und einen kleinen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke leisten. Vor der eigentlichen Publikation soll so auch eine Grundlage für die Diskussion der Thematik mit allen Interessierten geschaffen werden.
 

Methodik

Die Begehungsflächen mit einem Umfang von deutlich über 100ha verteilen sich in einem Streifen von 500m beiderseits des Karlsgrabens. Durch Begehung von 2m breiten Streifen im Abstand von 8m wurden jeweils 25% der Feldoberflächen systematisch abgesucht. Erfasst wurden dabei Artefakte jeglicher Art und Zeitstellung – von bearbeiteten Steinen über Keramik und Ziegel bis hin zu modernen Verpackungsmaterialien. Auf den Äckern fand also keine Vorselektion des Fundmaterials statt. Die Einmessung jedes Fundpunktes erfolgte zentimetergenau mit Hilfe eines Differential-GPS. An jedem Fundpunkt wurden Objekte aus dem Umkreis von etwa 1m in einer Tüte zusammengefasst und gemeinsam eingemessen. Aktuell (Stand Herbst 2015) umfasst das Fundinventar knapp 15.000 Fundtüten, von denen bislang knapp 9000 inventarisiert wurden (Abb. 1).


Abb. 1: Arbeitsstand der Begehungen im Karlsgrabenumfeld. Grün: inventarisierte Funde, Rot: noch nicht inventarisierte Funde (Stand September 2015) Geobasisdaten © Bayerisches Landesamt für Vermessung und Geoinformation 2012, mit freundlicher Genehmigung.

Die detaillierte Aufnahme des Materials dieser ca. 9000 Tüten mit insgesamt 16.715 Einzelobjekten bildet die Grundlage der vorliegenden Auswertung. Auf dieser Basis ist es möglich, erste Entwicklungslinien von Landnutzung und Siedlungsentwicklung im Umfeld des Karlsgrabens nachzuzeichnen. Nach Abschluss der Begehungen und der vollständigen Inventarisierung wird die Gesamtanalyse erfolgen. Wesentliche Aspekte der Quellenkritik, insbesondere der Faktor erosiver Materialverlagerungen und anderweitiger Fundstellenüberdeckungen, können erst in die Gesamtanalyse einfließen.

Die entsprechenden Arbeiten, nicht zuletzt von geowissenschaftlicher Seite, sind noch nicht abgeschlossen. In diesem Zusammenhang ist auch auf die unterschiedlichen Erhaltungsbedingungen verschiedener Fundgruppen hinzuweisen. Jüngere hart gebrannte Drehscheibenware ist wesentlich widerstandsfähiger gegenüber Abrieb und erhält sich im Pflughorizont besser als ältere handgemachte oder nachgedrehte Ware. Bei Sedimentverlagerungen durch Erosion wird demnach weniger widerstandsfähiges Fundmaterial stärker dezimiert. Zukünftige Analysen unter Einbeziehung von Bohrdaten versprechen diese Zusammenhänge näher zu beleuchten.
Auch durch unterschiedliche Begehungsbedingungen und die jeweilige Erfahrung und Sammelgewohnheit der Begehenden entstehen unvermeidlich Unterschiede in der Erfassungsdichte und -qualität, da Kleinstfragmente von Keramik und Ziegeln beispielsweise in unterschiedlicher Intensität geborgen wurden. Diese Unterschiede sind im Kartenbild teilweise evident, da einzelne Begehungsstreifen eine über- oder unterdurchschnittliche Dichte an Fundpunkten aufweisen. Die im Kartenbild (Abb. 2) rot markierten Bereiche wurden von Personen begangen, die wesentlich mehr Kleinstfragmente erkannt und eingemessen haben als andere. In der flächenhaften Analyse der Funddichten im GIS kann dieser Faktor aber dadurch zumindest abgeschwächt werden, dass Punkte aus einem entsprechend großen Umfeld (z.B. 100m) in die Dichteberechnung einfließen.

Abb. 2: Unterschiede im Begehungsbild durch persönliche Faktoren. Geobasisdaten © Bayerisches Landesamt für Vermessung und Geoinformation 2012, mit freundlicher Genehmigung.

Materialzusammensetzung

Das Gesamtinventar der bislang erfassten 16.715 Funde gliedert sich in 6.782 Kleinfunde und 9.933 Keramikscherben. Innerhalb der Kleinfunde dominiert Baumaterial (v.a. Ziegel) mit 45%, die zweitgrößte Gruppe bilden mit 17% meist unbearbeitete Steine (Diagramm 1). Innerhalb des keramischen Fundmaterials überwiegen mit 89% unterschiedliche Drehscheibenwaren, handgefertigte und nachgedrehte Waren machen lediglich 5% aus. Über zwei Drittel der Drehscheibenware ist glasiert. Bei knapp einem Viertel handelt es sich um unglasierte oxydierend gebrannte Drehscheibenware (Diagramm 2).

Diagramm 1

Diagramm 2

 

Datierung

Lesefunde, insbesondere kleinteilige Scherben mit häufig schlecht erhaltenen Oberflächen, lassen sich vielfach nicht präzise datieren. Häufig ist daher nur eine Zuordnung in ein größeres Zeitintervall möglich, innerhalb dessen keine genaue Eingrenzung erfolgen kann. Nichtsdestotrotz lässt sich für viele Materialgruppen der Zeitpunkt des frühestmöglichen Auftretens in der Region festlegen. Daraus ergibt sich ein terminus post quem für das entsprechende Material, vor dem kein Objekt an die Fundstelle gelangt sein kann. Der Fundniederschlag lässt sich dadurch zumindest grob zeitlich gliedern. So erscheint reduzierend gebrannte jüngere Drehscheibenware in Mittelfranken beispielsweise ab 1200 n. Chr., oxydierend gebrannte jüngere Drehscheibenware ab etwa 1300 n. Chr., einseitig glasierte Gefäßkeramik ab dem mittleren 14. Jahrhundert und beidseitig glasierte Keramik ab Mitte des 16. Jahrhunderts. Für Kleinfunde lassen sich entsprechende Anfangsdatierungen gewinnen: Tabakspfeifen aus Keramik verbreiten sich beispielsweise ab dem 17. Jahrhundert und industriell gefertigtes Glas und Gummi ab dem mittleren 19. Jahrhundert. Auf dieser Grundlage konnten 11.508 der 16.715 Objekte (69%) mit einem spezifischen terminus post quem versehen werden (Diagramm 3). Ein Großteil der undatierten Funde (94%) sind nichtkeramische Kleinfunde, insbesondere Ziegel und Steine. 

Diagramm 3



Die zahlreichen einzelnen Anfangsdatierungen wurden in sechs Intervalle zusammengefasst, deren Materialgruppen deutliche Entwicklungsstufen repräsentieren (Tabelle 1):
Tabelle 1


Die älteste Gruppe hat ihren terminus post quem zwischen Vorgeschichte und beginnendem Frühmittelalter. Die nächstjüngere Gruppe umfasst potentielles Material des Früh- und Hochmittelalters bis zum späten 12. Jahrhundert. Die aufkommenden jüngeren Drehscheibenwaren markieren um 1200 den Beginn des hoch- bis spätmittelalterlichen Datierungsintervalls. Die spätmittelalterliche Gruppe setzt Mitte des 14. Jahrhunderts mit dem Auftreten der einseitig glasierten Drehscheibenware ein. Um 1500 beginnt das vorindustrielle neuzeitliche Datierungsintervall, das vor allem von beidseitig glasierter Keramik und Malhornware geprägt wird. Mit der einsetzenden Industrialisierung und der Verbreitung neuer Materialgruppen wie Gummi, Steingut und industriell gefertigtem Glas setzt um 1800 die jüngste Gruppe ein, die bis in die Gegenwart reicht.

Die Fundverteilung innerhalb der frühestmöglichen Datierungsintervalle zeigt wie zu erwarten einen deutlichen Schwerpunkt in den jüngeren Gruppen. Lediglich etwa 5% des Materials sind potentiell vorgeschichtlich, kaiserzeitlich-völkerwanderungszeitlich oder früh- bis hochmittelalterlich. Insgesamt 55% der Funde haben einen terminus post quem zwischen 1200 und 1500, 40% sind eindeutig neuzeitlich (Diagramm 4, N=11.508). 

Diagramm 4


Innerhalb dieser Gesamtverteilung lassen sich auf der Ebene einzelner Flurstücke allerdings deutliche Unterschiede feststellen. Neun der bislang bearbeiteten Flurstücke (Abb. 3, Diagramm 5) wurden exemplarisch ausgewählt, um die zeitliche Gliederung flurstücksbasiert zu analysieren (die Nummerierung in Karte und Diagramm ist projektintern und gibt keine realen Flurstücksnummern wider). 


Abb. 3: Für die Detailanalyse exemplarisch ausgewählte Flurstücke. Geobasisdaten © Bayerisches Landesamt für Vermessung und Geoinformation 2012, mit freundlicher Genehmigung


Diagramm 5

Im Diagramm sind einige Auffälligkeiten erkennbar: Potentiell vorgeschichtliches Fundmaterial findet sich beispielsweise nur auf den Flächen 7 und 21 in signifikanter Menge. Im Nahbereich beider Flurstücke liegen bekannte vorgeschichtliche Fundstellen, deren Ausdehnung bislang wohl nicht vollständig erfasst wurde. Ins Auge fällt auch der geringe Anteil von Funden vor dem spätmittelalterlichen Datierungsintervall auf den Ackerflächen 9 und 11. Beide Flurstücke sind im Urkataster des frühen 19. Jahrhunderts als Wiesen kartiert. Möglicherweise erfolgte erst spät eine Umnutzung in Ackerland, was das Fehlen eines älteren Fundniederschlages erklären könnte. Darin deuten sich erste raum-zeitliche Unterschiede in der agrarischen Nutzung der Landschaft im Karlsgrabenumfeld an. Es wird zu prüfen sein, ob auch andere Landschaftseinheiten mit ungünstigen Rahmenbedingungen für eine ackerbauliche Nutzung (Feuchtezonen, Hanglagen, schlechtere Böden) eine ähnliche Tendenz aufweisen. Zumindest für einige Hanglagen deutet sich ein entsprechender Trend in den ersten Gesamtkartierungen und Dichteanalysen durchaus an (Abb. 4 und 5). 

Abb. 4: Gesamtkartierung der Fundpunkte nach frühestmöglichen Datierungsintervallen. Geobasisdaten © Bayerisches Landesamt für Vermessung und Geoinformation 2012, mit freundlicher Genehmigung.

Abb. 5: Funddichte der einzelnen frühestmöglichen Datierungsintervalle pro Hektar. Rot: über 25 Funde/ha, orange: 10-25 Funde/ha, gelb: 5-10 Funde/ha, grün: 1-5 Funde/ha (Kernel Density, Search Radius 100m, Cell Size 10m, Population Field auf Basis der Fundanzahl berücksichtigt) Geobasisdaten © Bayerisches Landesamt für Vermessung und Geoinformation 2012, mit freundlicher Genehmigung.

Grundsätzlich lässt sich bereits festhalten, dass der flächendeckende Scherbenschleier im Umfeld des Karlsgrabens frühestens im Datierungsintervall 13. bis Mitte 14. Jahrhundert einsetzt. Diesen Prozess zeitlich näher einzugrenzen muss der Gesamtanalyse vorbehalten bleiben. Auch die Interpretation des früh- bis hochmittelalterlichen Fundniederschlags als Relikt von echten Fundstellen oder als Produkt der sehr frühen Düngung einzelner Flurstücke gilt es in diesem Zusammenhang zu klären. 



Literaturauswahl

  • C. DYER, Dispersed Settlements in Medieval England. A case study of Pendock, Worcestershire. Medieval Arch. 34,,1990), 97–121.
  • P. ETTEL U.A. (Hrsg.), Großbaustelle 793. Das Kanalprojekt Karls des Großen zwischen Rhein und Donau. Mosaiksteine. Forschungen am Römisch-Germanischen Zentralmuseum 11 (Mainz 2014).
  • P. P. HAYES, Models for the distribution of pottery around former agricultural settlements. In: A. J. SCHOFIELD (Hrsg.), Interpreting artefact scatters. Contributions to ploughzone archaeology. Oxbow monograph 4 (Oxford 1991), 81–92.
  • R. JONES, Signatures in the Soil: the use of pottery in manure scatters in the identification of medieval arable farming regimes. The Archaeological Journal 161, 2004, 159–188.
  • R. JONES, Manure and the Medieval Social Order. In: J. G. EVANS u.a. (Hrsg.), Land and people. Papers in memory of John G. Evans. Prehistoric society research paper no. 2 (Oxford 2009), 217–225.
  • R. JONES, Understanding Medieval Manure. In: R. JONES (Hrsg.), Manure Matters. Historical, Archaeological and Ethnographic Perspectives (Farnham 2012), 145–158.
  • R. SCHREG, Scherbenschleier als Indikator für Landnutzungsstrategien. Archaeologik (11.6.2013) -  http://www.archaeologik.blogspot.de/2013/06/scherbenschleier-als-indikator-fur.html.
  • L. WERTHER, Siedlungsentwicklung und Kulturlandschaft im Umfeld des Karlsgrabens. In: P. ETTEL u.a. (Hrsg.), Großbaustelle 793. Das Kanalprojekt Karls des Großen zwischen Rhein und Donau. Mosaiksteine. Forschungen am Römisch-Germanischen Zentralmuseum 11 (Mainz 2014), 45–52.

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Tamara Ruchte ist Masterstudentin der Archäologie des Mittelalters in Tübingen und bereitet sich derzeit auf ihre Masterarbeit, die Auswertung einer Stadtkerngrabung, vor.

Larissa Schulz ist Masterstudentin der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Bamberg. Ihren Bachelor in Archäologischen Wissenschaften, mit Spezialisierung auf Vor- und Frühgeschichte, machte sie in Marburg.

Lukas Werther lehrt und forscht als promovierter Archäologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er hat sich im Bereich der Mittelalter- und Neuzeitarchäologie spezialisiert und untersucht seit 2012 in einem interdisziplinären Projekt den Karlsgraben.
https://uni-jena.academia.edu/LukasWerther

2 Kommentare:

  1. Schöner, runder Artikel über die Bedeutung auch von unscheinbaren, scheinbar bedeutungslosen Oberflächenfunden!

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  2. Das "Begehungsbild" ist beeindruckend. Theoretisch wusste ich immer um die verschiedenen Umstände, die die Fundfrequenz beeinflussen können. Was für ein wirklich äußerst beeindruckender Beleg, der wahrscheinlich aber die Umstände ( -wie Oberflächenbeschaffenheit, Bewuchs, Stand der Bodenbearbeitung, Feuchtigkeit, Krume, Alter und Sehschärfe...etc pp )auch nicht vollständig erfasst.! Was ist streng wissenschaftlich, oder hinkt jede Wissenschaftlichkeit?---

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