- Zum Umgang mit materiellen Zeugnissen aus der Zeit der NS-Diktatur in Bodendenkmalpflege und Archäologie. - https://www.blfd.bayern.de/mam/blfd/presse/positionspapier.pdf
Hintergrund ist, dass sich die Archäologie der Moderne in den letzten Jahren nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften der NS-Zeit in Deutschland und Österreich etabliert hat. Einerseits sind hier viele Maßnahmen und Projekte der Archäologischen Denkmalpflege in zahlreichen deutschen Bundesländern, andererseits aber auch eine zunehmende Bedeutung in der univeritären Forschung und Lehre zu verzeichnen, wie das insbesondere Claudia Theune an der Universität Wien voran getrieben hat.
Das Positionspapier ist mit einer einzigen Seite betont kurz und stellt nur
einige Thesen auf. Die Notwendigkeit der Erhaltung, der qualifizierten Erfassung, Dokumentation und Erforschung dieser Bodendenkmale begründet das Papier mit fünf Punkten:
- der historischen Einmaligkeit des Holocausts
- der Bedeutung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit der NS-Diktatur
- der intentionellen Auswahl erhaltener schriftlicher und bildlicher Überlieferung
- dem Ende der Generation der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
- der Einmaligkeit archäologischer Quellen
Der letzte Punkt verweist auf den Quellenwert der Funde und deren wissenschaftliche Aussagekraft, was aber in der Kürze des Papiers nicht weiter ausgeführt wird. Erläuternd wird nur etwas abgehoben formuliert: "Denkmalbegriff und Arbeitsweise der Bodendenkmalpflege und Archäologie bieten Grundlagen für ein im Raum skalierbares und ganzheitliches Verständnis struktureller und systemischer Zusammenhänge. Methoden der Archäologie und assoziierter Wissenschaften sind geeignet, die textliche, mündliche und bildliche Überlieferung zu objektivieren, zu vervollständigen und zu erklären. Archäologische Strukturen und Objekte erschließen neue Bedeutungen. Sie reichen über herkömmliche Interpretationen und gängige Denkmalwerte hinaus und sind bei der Beurteilung der materiellen Überlieferung einzubeziehen („forensischer Wert“, „empathischer Wert“ i.S. Alterswert nach Riegl)."
So kurz und wenig selbsterklärend das Papier ist, die Vorstellung auf dem Obersalzberg schint das Ziel erreicht zu haben. Mit der offiziellen Vorstellung des bereits in den Oktober 2023
datierten kurzen und spröden Positionspapiers in einem internationalen
Rahmen, in den auch der bayerische Wissenschaftsminister Markus Blume
(CSU), der Generalkonservator Mathias Pfeil vom Bayerischen Landesamt
für Denkmalpflege beteiligt waren, sind zahlreiche Medienberichte erschienen, die das Thema dann genauer und anschaulicher darstellen.
Hervorzuheben ist vor allem ein Artikel des Standard:
- Die letzten Erinnerungsstücke der Ermordeten von Schloss Hartheim. Der Standard 10.7.2024. - https://www.derstandard.de/story/3000000227634/die-letzten-erinnerungsstuecke-der-ermordeten-von-schloss-hartheim
Der Standard, aber auch andere Berichte verweisen auf das Beispiel archäologischer Funde von Schloß Hartheim bei Linz, wo zwischen 1941 und 1944 rund 30.000 Menschen ermordet wurden - psychisch Kranke, aber auch Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. 2001 wurden bei Bauarbeiten für eine Fernwärmeleitung rund 8.000 Objekte gefunden, wie zum Beispiel Brillen, Broschen, Rosenkränze, Wallfahrtsanhänger, Parteiabzeichen, Zahnbürsten, Kämme, Seifen, Geschirr und auch Identifikationsmarken ermordeter KZ-Häftlinge. Sie sind vielfach der entscheidende Beleg ihrer Ermordung in Hartheim und somit wichtig, die Schicksale der Opfer des NS-Terrors zu rekonstruieren. Sie zeigen plastisch, dass NS-Morde nicht nur "die Anderen" betroffen haben, sondern, dass diese Ideologie vor Keinem Halt macht. Die archäologischen Funde illustrieren die verschiedenen Opfergruppen. Mehr als hundert Rosenkränze weisen darauf hin, dass auch Katholiken ermordet wurden, ein teurer Lippenstift macht deutlich, dass auch Frauen aus wohlhabenden Kreisen zu den Opfern gehörten.
Dass das Eigentum von Opfern eines verbrecherischen Regimes, die hier mishandelt und ermordet wurden, nicht einfach als Müll entsorgt werden können ist leicht einzusehen. Anders steht es um die Täterfunde, etwa vom Obersalzberg. Sie werden allzu leicht zu NS-Devotionalien und sind deshalb von irren Sammlern heiß begehrt. Erst vor wenigen Tagen sind wieder Objekte aus der Gedenkstätte Flossenbürg gestohlen worden.
Zweifellos kommt auch ihnen ein Erinnerungswert zu, der jedoch eine Kontextualisierung voraussetzt. Insofern ist Jürgen Kunow zu widerprechen, der Funde der Archäologie der Moderne als Beleg sieht, dass archäologische Funde auch ohne wissenschaftliche Fragestellung ein denkmalpflegerisch bedeutender Erinnerungswert zukommen kann (Kunow/ Rind 2022, #). Das ist prinzipiell richtig, aber ohne wissenschaftliche Kontextualisierung bewirkt die Banalität des Täteralltags eine Relativierung der Verbrechen und ohne sie gewinnen die Funde in entsprechenden Kreisen einen unangemessenen Reliquien- und Devotionalienstatus. Es ist tatsächlich erst der wissenschaftliche Zugang und der Quellencharakter, der eine denkmalpflegerische Betreuung rechtfertigt. Erinnerungsarbeit ohne wissenschaftlichen Anspruch läuft Gefahr, dass sie sich vor irgendeinen politischen Karren spannen lässt.
"Obersalzberg.- Adolf Hitler beim Lesen im Haus Wachenfeld, 1936" Alltagsgegenstände auf dem Obersalzberg Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1973-034-42 / Heinrich Hoffmann / CC-BY-SA 3.0) |
Die
Funde der NS-Zeit verweisen auf die Notwendigkeit der Kontextualisierung. Opfer wie Täter verwendeten Zahnbürsten. Sind nun Täterfunde anders zu behandeln als Opferfunde?
Lohnt
es sich in Täterfunde Geld zu investieren? Unter dem Bericht in den
Salzburger Nachrichten findet sich ein Kommentar, der in seiner Kürze
deutlich macht, dass gegenüber der Öffentlichkeit hier ein Erklärungsbedarf besteht.
Wann hört diese Devotionalienklauberei eigentlich mal auf? Der rechte Rand unserer Gesellschaft muss politisch bekämpft werden! Das schafft man nicht mit alten Scherben und Lederschuhen! (https://www.sn.at/salzburg/chronik/funde-obersalzberg-zeit-fuehrers-zahnbuersten-rosenkraenzen-161560363)
Fundstellen der Moderne sind zahlreich und liefern oft auch Massen an Funden. Lagerung, aber auch die Konservierung der Funde - oft aus irgendwelchen Kunststoffen hergestellt, deren genauen Materialeigenschaften nach Jahrzehnten der Bodenlagerung völlig unbekannt sind - bieten hier besondere Herausforderungen und verlangen nach einer klaren Strategie im Umgang mit ihnen.
In einem Interview mit dem Spiegel formuliert Stefanie Berg vom BLfD das mögliche Vorgehen plastisch:
"Wenn wir an einem Ort 1000 Gasmasken finden, dann genügt es natürlich, wenn wir das dokumentieren und eine Maske aufbewahren. Wenn es um Besitztümer von Opfern geht, tue ich mich schwer mit der Entsorgung. Oft handelt es sich ja um die letzten Habseligkeiten und Erinnerungen an diese Menschen, da tragen wir eine große ethische Verantwortung."
Der Quellenwert
In einem Interview mit dem Spiegel stellt Stefanie Berg vom BLfD fest:
"Archäologische Funde sind objektiv, sie irren sich nicht und fügen den schriftlichen und mündlichen Überlieferungen manchmal sogar bisher Unbekanntes und Überraschendes hinzu."
Das ist natürlich nur begrenzt richtig, denn archäologische Funde können sehr wohl falsch und subjektiv sein, weil Kontexte fehlen können und Formationsprozesse (vgl. Archaeologik) selektieren. Zudem können Funde natürlich falsch oder subjektiv interpretiert werden - und archäologische Funde müssen immer interpretiert werden.
Wann und unter welchen Umständen wird der Müll zur Quelle? Wann haben archäologische Funde einen eigenen Quellenwert, wann dienen sie nur der Illustration dessen, was wir eh schon wissen?
Zunächst: Die Illustration dessen, was wir eh schon wissen (sollten), ist in Zeiten, in denen Politiker mit NS-Sprüchen auf Stimmenfang gehen, in denen Holocaustleugnung und Naziverherrlichung zunehmen, zudem aber auch die Zeitzeugen wegsterben, eine nicht zu verachtende Funktion archäologischer Funde. In der Archäologie der Moderne treten neben die wissenschaftlichen Aspekte der Forschung auch der Erinnerungskultur und der politischen Bildungsarbeit - bisweilen auch eher forensische Aspekte. Dieser Erinnerungswert entsteht allerdings nur durch die wissenschaftliche Methodik und wissenschaftliche Kontextualisierung - ansonsten werden sie bestenfalls Reliquien und Fetische.
Noch immer wird allerdings die Frage nach der Bedeutung der Archäologie in der Moderne, aber auch für das Mittelalter gestellt - und implizit unterstellt, das sei Unsinn. Das kommt nicht nur aus der Gesellschaft, sondern durchaus auch aus dem Kreis von Kolleginnen und Kollegen, deren weitgehendes Schweigen nicht bedeutet, dass sie überzeugt sind, dass die Archäologie zu diesen Perioden sinnvoll und wichtig ist. Der Wert kann der Archäologie der Moderne aber nur abgesprochen werden, wenn man es als ihr Ziel sieht, Traditionen und Identitäten zu stiften.
In der Archäologie der Moderne geht es jedoch primär um ein kritisches Narrativ, um das Hinterfragen von Mythen, von Parallelüberlieferungen und auch um die Gesellschaftskritik. In der Archäologie wurden Narrative, bisher nur mangelhaft und oft nur oberflächlich diskutiert. Die mangelnde Reflektion führt dazu, dass die Archäologie noch immer in dem alten Muster der traditionalen oder bestenfalls genetischen Meistererzählung feststeckt, das kritische Narrativ aber kaum verfolgt wird (vgl. Schreg 2016; Archaeologik 3.12.2013).
In der Konfrontation mit der schriftlichen Überlieferung oder den Erinnerungsberichten können Funde der NS-Zeit jedoch auf Diskrepanzen hinweisen oder neue Blickwinkel eröffnen. Wichtig ist dabei aktuell vor allem auch die Konfrontation mit rechten Mythen der Verharmlosung oder gar Leugnung des Holocaust, die oft das Ziel hat, antidemokratische und menschenfeindliche Ideen zu legitimieren. Erinnert sei hier an den Beitrag der Archäologie bei der Widerlegung der hohen Opferschätzungen der Todesopfer bei den Luftangriffen auf Dresden, die rechter Propaganda entstammen (vgl. Archaeologik 13.2.2020). Ein genuiner eigener Quellenwert archäologischer Funde der NS-Zeit ergibt sich vor allem aus deren 'kritischem Potential', aber auch in deren Bedeutung für die chronologische Einordnung und vielfach auch für die Erkenntnis größerer kulturgeschichtlicher Zusammenhänge.
Wie Stefanie Berg sagt, zeigen die Funde in der Tat häufig "bisher Unbekanntes und Überraschendes", was es aber schwierig macht, den Quellenwert im Voraus exakt zu bestimmen. Das Unbekannte und Überraschende ergibt sich aus dem, was andere Quellen nicht spiegeln oder wo erst eine Kombination Zusammenhänge erkennen lässt. Die wissenschaftliche Kontextualisierung erfolgt aus dem archäologischen Kontext und - wie das in der historischen Archäologie Standard sein sollte - aus der Kombination mit Schriftquellen und Baubefunden. Erst, wenn man diese Quellen erforscht und sie kontextualisiert, ergibt sich ein Quellenwert. Bisweilen sind die Funde Illustration, bisweilen Bestätigung, vielfach aber auch Augenöffner für neue Perspektiven.
Links
- Archäologische Funde und das Grauen des Nationalsozialismus. Traunsteiner Tagblatt 10.7.2024. - https://www.traunsteiner-tagblatt.de/region/nachrichten-aus-bayern_artikel,-archaeologische-funde-und-das-grauen-des-nationalsozialismus-_arid,885700.html von dpa
- »Entdeckungen, die vom Wahnsinn des Nationalsozialismus erzählen« Spiegel Wissenschaft 10.7.2024. - https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/funde-aus-dem-nationalsozialismus-entdeckungen-die-vom-wahnsinn-des-nationalsozialismus-erzaehlen-a-ee30d6d3-e429-44f9-98b8-6d4f2a8d3df8 - Interview mit Stefanie Berg (BLfD)
- Archäologie bei Erforschung der NS-Zeit wichtiger. ORF Salzburg 11.7.2024. - https://salzburg.orf.at/stories/3264624/
- Obersalzberg: Archäologische Funde werden wichtiger. Bayern-Welle 10.7.2024. - https://www.bayernwelle.de/berchtesgadener-land-und-salzburg/obersalzberg-archaeologische-funde-werden-wichtiger
- NS-Erinnerungskultur: Archäologische Funde gewinnen an Bedeutung. Austrian Presse Agentur 10.7.2024. - https://science.apa.at/power-search/12517595331383773441
In der Einschätzung unberücksichtigt blieben einige weitere Artikel, die hinter einer PayWall stehen:
- Funde am Obersalzberg aus der Zeit des "Führers" - von Zahnbürsten und Rosenkränzen. Salzburger Nachrichten 10.7.2024. - https://www.sn.at/salzburg/chronik/funde-obersalzberg-zeit-fuehrers-zahnbuersten-rosenkraenzen-161560363 - Paywall
- Archäologen geben sich Regeln zum Umgang mit NS-Massenfunden. SZ 10.7.2024. - https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-obersalzberg-archaeologie-funde-ns-zeit-lux.Una1VXQ9MGWnT2kfUZBTE7 - Paywall
Zu Schloß Hartheim:
- https://www.tips.at/nachrichten/eferding/kultur/597532-ausgrabungen-aus-hartheim-kommen-in-die-sammlung-des-landes
- https://www.schloss-hartheim.at/forschung/dokumentationsstelle-hartheim/sammlungen
Diebstahl in Flossenbürg
- Gegenstände aus KZ-Gedenkstätte Flossenbürg gestohlen. BR24 9.7.2024. - https://www.br.de/nachrichten/bayern/gegenstaende-aus-kz-gedenkstaette-flossenbuerg-gestohlen,UI0xGs9
- „Unglaublich pietätlos und würdelos“. SZ 10.7.2024. - https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-flossenbuerg-souvenirjaeger-kz-gedenkstaette-tatmotiv-lux.XHLppKd2P7TvgZp42PReA2
Literaturhinweise
- Eigelsberger et al. 2023: P. Eigelsberger / S. Loistl / F. Schwanninger (Hrsg.), Fundstücke 1 (Alkoven 2023).
- Haubold-Stolle 2020: J. Haubold-Stolle (Hrsg.), Ausgeschlossen -
Archäologie der NS-Zwangslager. Stiftung Topographie des Terrors / Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide [Gastgebende Institution] (Berlin / Berlin 2020).
- Kunow / Rind 2022: J. Kunow / M. M. Rind, Archäologische Denkmalpflege. Theorie - Praxis - Berufsfelder. Uni-Taschenbücher nr. 5705 (Tübingen 2022).
- Schreg 2016: R. Schreg, Narrative und Rezeption. In: B. Scholkmann / H. Kenzler / R. Schreg (Hrsg.), Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Grundwissen (Darmstadt 2016) 146–148.
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