Simon Matzerath, Joachim Pechtl, Christian Peitz, Daniel Schyle, Jürgen Weiner
Neolithikum macht Gegenwart – Inhaltlicher Bezug
Erst die neolithischen Innovationen Sesshaftigkeit und Nahrungsmittelproduktion haben die in der Biologie beispiellose Ausbreitung der Spezies Mensch in alle, auch in die lebensfeindlichsten Habitate des Erdballs ermöglicht. Die Produktion über den eigenen Bedarf hinaus hat wiederum zu Arbeitsteilung und gesellschaftlicher Differenzierung geführt; Bevölkerungswachstum, Migrationen und Wissenstransfer haben Innovationen und technischen Fortschritt in einer Weise beschleunigt, dass keiner von uns heute in der Lage wäre, auf sich allein gestellt ein komplexes zeitgenössisches Allerweltsprodukt wie zum Beispiel ein Smartphone in all seinen Einzelheiten völlig zu verstehen oder womöglich sogar selber herzustellen.
LVR-LandesMuseum Bonn, 2015
Das Titelmotiv der Erstausgabe der Kölner Römer Illustrierten (1/1974) mit der Darstellung des auf dem Rollfeld eines Flughafens liegenden Kopfes einer antiken Plastik lieferte für die sechste Landesausstellung Nordrhein-Westfalen die Inspiration für den Ansatz, eine Beziehung von Archäologie und Gegenwart anzudeuten (Matzerath 2015, Matzerath 2016). Hintergrund der Abbildung war vor über 45 Jahren die Eröffnung des Neubaus des Römisch-Germanischen Museums Köln und dessen von Hugo Borger betriebene Neukonzeption als „Schaufenster in die Römerzeit“. Die Objekte sollten in die Alltagswelt der Menschen geholt werden.
In der Planung der am 4. September 2015 im LVR-LandesMuseum Bonn eröffneten Landesausstellung „Revolution Jungsteinzeit“ zeigte sich, wie schwer eine sinnvolle Verknüpfung von Archäologie und Gegenwart sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch in der Realisierung für eine Ausstellungsinszenierung ist. Die Umsetzung reduzierte sich auf vereinzelt eingewobene, meist oberflächliche Bemerkungen in den Ausstellungstexten sowie die Einbeziehung von modernen Objekten: Einer Pflugschar, einem Rad und einer Motorsäge. Sie standen als Symbole für heute noch relevante Innovationen des Neolithikums bzw. im Fall der Motorsäge, Nachfolgerin des Steinbeils, auch für das Roden von Wald im Zuge der Umwandlung der Natur- zur Kulturlandschaft. Eine Pädagogik-Station erlaubte den Vergleich von statistisch ermittelten Tagesabläufen (Jäger/Sammler, Neolithikum und Gegenwart), eine Grafik zeigte den im Neolithikum durch die menschlichen Umwelteingriffe erstmals (minimal) gestiegenen Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre. Am Ende stand ein kurzes Mindmapping als Resümee zum Neolithikum und mit schlagwortartigen Verweisen auf in Beziehung stehende Phänomene der Gegenwart (Matzerath u. a. 2015).
Museum für Steinzeit und Gegenwart, 2019
Eine konsequentere Berücksichtigung erfuhr der gegenwartsbezogene Ansatz erstmals in der Planung des Museums für Steinzeit und Gegenwart im niederbayerischen Landau an der Isar (Matzerath u. a. 2020; Pechtl u. a. im Druck; Peitz u. a. im Druck). Das Museum verbindet auf 640 m² die aktuellen Standpunkte der europäischen Neolithikumforschung mit der Vermittlung eines modernen Steinzeitbildes und greift systematisch, aber auf Grundlage der langen zeitlichen Perspektive, Themen unserer heutigen Gesellschaft auf. In sechs Räumen werden über 500 archäologische Funde in einen internationalen Zusammenhang gestellt und inhaltlich mit der modernen Gesellschaft und ihrem Alltag in Beziehung gesetzt. Dabei aufkommende Kontroversen sind gewollt, denn nur in der argumentativen Auseinandersetzung entstehen Ideen, die den eigenen Horizont erweitern.
An 20 Stationen der Ausstellung sind Objekte des 20. und 21. Jahrhunderts eingebunden und helfen, den thematischen Zugang zum Neolithikum zu vereinfachen. Es wird an ausgewählten Beispielen deutlich, wie sehr die Gegenwart in der Tradition der Jahrtausende steht und Zustandsberichte und Zukunftsvisionen wie etwa der Vereinten Nationen (Griggs u. a. 2013; Díaz u. a. 2019), des Club of Rome (Weizsäcker/Wijkman 2017) oder von Yuval Noah Harari (Harari 2018) aus der Geschichte heraus verstanden werden können.
Zukünftige Positionierung im Museum: Wir stehen am Anfang.
Ein neuer Museumstyp zieht die Aufmerksamkeit auf sich: Das 2019
gegründete Futurium in Berlin widmet sich den Fragen zur Zukunft unserer
Gesellschaft. Archäologische Museen können und sollten sich an der
Diskussion um die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen
menschlichen Lebens beteiligen. (Foto: Boonekamp [CC BY-SA 4.0] via WikimediaCommons). |
Literatur
- Bauer u. a. 2020
P. Bauer/R. Bocksch/B. Friedrich, 102 grüne Karten zur Rettung der Welt. (Berlin 2020). - Braudel 1958
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V. G. Childe, Man makes himself. (London 1936). - Diaz u. a. 2019
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D. Engels, Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen. (Berlin 2014). - Foley u. a. 2013
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E. U. von Weizsäcker/A. Wijkman, Wir sind dran. Club of Rome: Der große Bericht. (Gütersloh 2017).
English abstract
Neolithic makes Present. Why Archaeological Museums should explain our Modern Society – an Essay
Key words: Archaeology and Present, Modern Society, Museums, Exhibition concept, Neolithic Revolution.
Die Mitglieder der Autorengruppe waren bzw. sind in unterschiedlichen Anteilen in der Lehre und Vermittlung, in der Forschung, Feldarbeit und Denkmalpflege tätig. Gemeinsam haben sie das Museum für Steinzeit und Gegenwart in Landau an der Isar konzipiert und die Realisierung begleitet.
Simon Matzerath M.A. ist Direktor des Historischen Museums Saar in Saarbrücken, war Mit-Kurator der Landesausstellung NRW „Revolution Jungsteinzeit“ 2015/2016 im LVR-LandesMuseum Bonn und am Lippischen Landesmuseum Detmold.
Dr. Joachim Pechtl forscht mit Schwerpunkt zum Neolithikum in Bayern und im Ostalpenraum und ist Leiter des Fachbereichs Steinzeiten am Institut für Archäologien an der Universität Innsbruck. Er war 10 Jahre im kelten römer museum Manching tätig.
Der Geologe und Paläontologe Dr. Christian Peitz (Rheinbach) ist seit 14 Jahren (teils freiberuflicher) Kurator und Museumspädagoge mit einem Wirkungsfeld an sieben Museen im Rheinland.
Mit Schwerpunkten im Neolithikum und Paläolithikum war Dr. Daniel Schyle (Neanderthal Museum Mettmann) an zahlreichen Forschungsprojekten in Mitteleuropa und im Orient beteiligt. Aktuell arbeitet er in einem Projekt zu den Steinzeiten im Rheinland.
Dr. Jürgen Weiner (Pulheim-Sinthern war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2012 im LVR-Amt für Bodendenkmalpflege beschäftigt. Unter anderem gehören Bergbau und Wasserversorgung im Neolithikum zu seinen Forschungsschwerpunkten.
Als korrespondierender Autor dieses Beitrags fungiert Simon Matzerath M.A., Historisches Museum Saar, Schlossplatz 15, 66119 Saarbrücken, s.matzerath@hismus.de
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