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Dienstag, 3. Dezember 2013

Vom Mißbrauch und Gebrauch der Geschichte

Geschichte als Instrument
Aus Politik und Zeitgeschichte 42-43, 2013
herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung



Der Schwerpunkt des Heftes liegt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, da dieser für die politische Bildung eine größere Bedeutung zugemessen wird als dem Mittelalter oder gar noch weiter zurück liegenden Epochen. Aber natürlich sind auch diese von einer Konstruktion betroffen - ganz offenkundig ist das, wenn man an die 'Interpretationen' der 'germanischen' Geschichte während des Zeitalter des Nationalismus und des Nationalsozialismus denkt. Geschichte ist immer abhängig vom Standpunkt, von den forschungsleitenden Fragen und von dem in der Gegenwart verankerten Forschungsinteresse. Diese Faktoren zu erkennen, ist ein wesentlicher Teil historischer und archäologischer Quellenkritik. Bei der Konstruktion der Zeitgeschichte wird deutlich, wie komplex diese Vorgänge sind. Die enge Verknüpfung mit aktueller Politik, die aktive Rolle historisch Beteiligter und eine wesentlich umfangreichere und diversifiziertere Quellenlage sind entscheidende Unterschiede zu einer Konstruktion älterer (Vor)Geschichte.
Insofern lohnt es sich immer wieder auch für Archäologen, einen Blick auf die Zeitgeschichte zu werfen. Das Heft 'aus Politik und Zeitgeschichte' gibt kompakt einen Einblick in die Problemlage von Geschichtskonstruktionen und in die Schwierigkeit, Geschichte ausgehend von aktuellen Themen zu betrachten.

Martin Sabrow, Variationen über ein schwieriges Thema
Der einleitende Aufsatz von Sabrow analysiert zunächst, worin sich Instrumentalisierung von Geschichte äußert. Als "klares Erkennungsmerkmal historischer Instrumentalisierung" verweist er auf "die Verzerrung der historischen Wahrheit durch Verfälschung ihrer Quellen und Fakten". Das augenfällige Beispiel das er dazu anführt, sind die Stalinschen Manipulationen von Bildern der Oktoberrevolution, in denen politische Gegner in einer Form der damnatio memoriae wegretuschiert worden sind.


Moskau, 5. Mai 1920: Lenin mit Trotzki und Kamenew
(Foto: Staatl. Hist. Mus. Moskau [PD],
via Wikimedia Commons)


Retuschierte Geschichte: Lenin ohne Trotzki und Kamenew
(Foto: Staatl. Hist. Mus. Moskau [PD],
via Wikimedia Commons)

Am Beispiel der Massengräber von Katyn und der Propagandaschlacht zwischen den Diktaturen Hitlers und Stalins zeigt sich die politische Bedeutung einer Kontrolle über die Geschichte. Dementsprechend spielt "die Unterdrückung oder Verzerrung historischer Erkenntnisse im öffentlichen Raum und in der Fachwissenschaft selbst" eine große Rolle. Die Geheimhaltung entscheidender Quellen und Druck auf die jeweiligen Forscher sind ein bekanntes Phänomen. Sabrow verweist in diesem Zusammenhang auf die Leugnung oder Marginalisierung des Völkermordes an den Armeniern in der Türkei während des Ersten Weltkriegs. Was Sabrow unter freiwilliger Selbstinstrumentalisierung fasst, sind freilich immer noch Beispiele, in denen von oben oder von politischen Überzeugungen der Forscher selbst Einfluß auf den Wissenschaftsbetrieb genommen wird, indem mißliebige Meinungen unterdrückt werden. Die Grenzen zur politischen Fälschung sind fließend. Politische Auftragsarbeiten - Sabrow führt hier die Unternehmensgeschichte an, "die sich mit methodischer Konventionalität und darstellerischer Distanzlosigkeit zum hagiografischen Sprachrohr unternehmerischer Selbstdarstellung machen ließ". Was aber ist mit Fällen, in denen der Zeitgeist oder eine political correctness dazu führen, dass Geschichte nur noch unkritisch in gängige  Schemen eingeordnet wird? Sabrow verweist nur kurz darauf, dass sich eine historische Instrumentalisierung nicht auf eine intentionale Inanspruchnahme beschränkt, sondern immer dort einsetzt, wo "die Geschichtsschreibung ihre analytische und reflexive Distanz gegen den geschichtskulturellen Konsens der Gegenwart eintauscht".
 
Bodo von Borries, Zurück zu den Quellen? Plädoyer für die Narrationsprüfung
Die Lücke in Sabrows Beitrag schließt von Borries Aufsatz. "Wo liegt die Grenze zwischen suggestiver Indoktrination, bequemer Selbsttäuschung, überlegter Gegenwartsanwendung und übernommener Verantwortung?"
Wer Historie betreibt (schreibt, liest, ansieht, diskutiert), hat immer Ziele oder Zwecke, was man auch als Instrumentalisierung („instrumentelle Nutzung von Geschichte“) bezeichnen kann. Aber die Art dieser Ziele kann verschieden sein, wobei natürlich der Offenheitsgrad des Bezuges auf Gegenwart und Zukunft höchst bedeutsam ist:
• Affirmation des Bestehenden (zum Beispiel Herrschaft, Ideologie, Tradition, Struktur),
• Oppositions-Rechtfertigung (Zustandskritik, Veränderungswunsch, Protest, Legendenaufdeckung),
• Einsicht in Entwicklungstrends, -risiken und -chancen als Fundament für Handlungsdisposition und -strategie,
• Hobby-Amüsement und Freizeit-Unterhaltung,
• Suchen nach Vorbildern (und Warnbildern) der eigenen – individuellen wie gruppenspezifischen – Lebensgestaltung,
• Analysefähigkeit für geschichtskulturelle Kontroversen und Konflikte (auch Erwerb von „kulturellem Kapital“ und „kleinen Unterschieden“ als „Habitus des Gebildeten“?),
• Größenwahn (Ausleben von Macht- und Ruhmträumen) und Selbstbetrug (Illusion der eigenen Vortrefflichkeit und Überlegenheit),
• Versöhnung mit Gegnern von gestern (Fremdverstehen, Selbsteinsicht, Aufeinander-Zugehen).
Von Borries betont die Rolle der Methodenreflexion. "Noch wichtiger ist es, sich selbst über die Art der Zwecke und den Grad der Zielerreichung immer wieder Rechenschaft abzulegen. Diese Selbst-Reflexivität betrifft natürlich besonders die eigene historische Frage- und Orientierungskompetenz."
 
Thomas Großbölting, Geschichtskonstruktion zwischen Wissenschaft und Populärkultur.
Für die Zeitgeschichte ist ein Bewältigung der erinnerten und erlebten Geschichte ein zentrales Thema. Hier ist es also überwiegend nicht die Wissenschaft, die Geschichtsbilder schafft, sondern eine wesentlich breitere Öffentlichkeit. Der Beitrag thematisiert dies vor allem am Umgang mit der Person Hitlers in der Geschichtswissenschaft wie in der Alltagskultur. "Die Person Hitlers wird gerade dadurch, dass sie so simpel in gängige Personalisierungsmuster aufgelöst wird, in vielfacher Hinsicht trivialisiert und verflacht." Daraus leitet sich die Frage nach einem Versagen der Geschichtswissenschaft bzw. genereller nach deren Rolle ab. Inwiefern müsste die Person Hitlers nicht stärker Gegenstand der Forschung sein? Großbölting hält dem entgegen, dass die Geschichtswissenschaft die Person Hitlers bewusst nicht in den Vordergrund gestellt habe, um "dem didaktischen Anliegen gerecht zu werden, die Hitler-Fixierung der frühen Thematisierungen des Nationalsozialismus zu überwinden."
 
Klaus Christoph, „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ – heute so wie gestern?
In der Auseinandersetzung mit der Aufarbeitungs- und Gdenkstättenpolitik seit der Wende zeigt sich deutlich die politische Dimension. Eine durch die rot-grüne Bundesregierung eingesetzen Kommission hatte vorgeschlagen, den Blickwinkel in der Aufarbeitung der SED-Diktatur durch Einbeziehung der Alltags-Lebenserfahrungen der DDR-Bürger zu erweiterm. Unter schwarz-gelb wurde dies wieder zugunsten einer Konzentration auf "diktaturbestimmte 'Aufarbeitungs'-Kategorien" wie „Staatssicherheit“, „Überwachung“, „Indoktrination“, „Verfolgung“ oder „Opfer und Täter“ verworfen. Befürchtet wurde eine Weichzeichnung der "DDR", was aber  ein von Schwarz-Weiß-Kontrasten getragenes Geschichtsbild voraussetzt, das in der Tradition des Kalten Krieges „Demokratie/Diktatur“, „Freiheit/Unfreiheit“ und „Recht/Unrecht“ gegeneinander setzt und keinen Raum für ein  komplexeres und realistischeres, von gesellschaftlichen Wahrnehmungen, Widersprüchen und Alltagserfahrungen geprägtes Verständnis lässt.
 "Der Umgang mit der DDR-Vergangenheit [ist] im Zuge der Wiedervereinigung zunehmend selbst zum konflikthaften Bestandteil des Vereinigungsprozesses geworden." Die einseitige politische Ausrichtung der Aufarbeitung riskiert "ironischerweise die Wiederbelebung einer problematischen Grunderfahrung des 'gelernten' DDR-Bürgers: Er musste von Kindesbeinen an Übung darin entwickeln, mit einer vom SED-Apparat inszenierten Wirklichkeitsdeutung umzugehen, die mit der Realität oft nur sehr entfernt etwas zu tun hatte." Für viele ehemalige DDR-Bürger  wird "die Rückschau auf die DDR von ambivalenten Gegenwartserfahrungen mitbestimmt, die sich nicht nur auf hinzugewonnene Freiheiten und umfänglichere Konsumangebote beziehen, sondern auch auf soziale Verwerfungen (vor allem im Kontext von Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen) und Zurücksetzungserfahrungen."
Der Beitrag von Klaus Christoph zeigt die Rolle nebeneinanderher laufender Wirklichkeitserfahrungen, die offizielle Narrative teils unglaubwürdig machen, die aber auch eine Legitimierung politischer Entscheidungen und Prozesse beinhalten.
 
Marcel Siepmann, Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder
Ausgehend von Überlegungen für ein 'Haus der europäischen Geschichte' in Brüssel stellt sich die Frage, was ein europäisches Geschichtsbild ausmachen kann. Für die jüngere europäische Geschichte wird die Erinnerung an den Holocaust eine zentrale Rolle spielen - also ein "negativer Gründungsmythos". Inwiefern ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, an einem europäischen Geschichtsbild und an der Formulierung einer europäischen Identität mitzuwirken. Einerseits hat die Geschichtswissenschaft das kritische Potential, subjektive Erinnerungen und Istrumentalisierungen der Geschichte zu entlarven, andererseits sind Geschichtsbilder - und eben darauf aufbauende symbolische Konstrukte - elementarer Bestandteil menschlicher Selbstdeutung und letztlich auch eine wichtige Legitimation der Auseinandersetzung mit Geschichte. Siepmann zitiert dazu den Historiker Jörn Rüsen: „Als Wissenschaft ist sie (die Geschichtswissenschaft, Anm. MS) nicht zuständig für die Beantwortung fundamentaler Sinnfragen, und doch weiß sie sich zugleich getragen von diesen Fragen, kann sie also nicht einfach abweisen.“ "Was also kann eine europäische Geschichtsschreibung sein, die eben nicht versucht, etwas herzustellen, wofür sich historisch keine Evidenz herstellen lässt, und die sich trotzdem auf das „gefährliche Spiel“ einlässt, sich mit gegenwärtigen Sinnfragen auseinanderzusetzen? Was könnten heute solche Sinnfragen sein, denen sich auch die Geschichtswissenschaft stellen muss?" Siepmann plädiert für eine europäische Geschichte als Geschichte eines europäischen Sozialmodells.

Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin
(Foto: Metoc [CC BY-SA 2.5]
via WikimediaCommons)
Marion Klein, Trauerimperativ: Jugendliche und ihr Umgang mit dem Holocaust (-Denkmal) Der letzte Beitrag des Heftchens widmet sich dem Problem, dass die "vierte Generation" nach dem Holocaust nicht mehr auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann. Keiner hat mehr einen tatsächlichen Zeitzeugen erlebt. Die Erwartungshaltung der Trauer wird deswegen nicht automatisch erfüllt. Der didaktische Zugang, einen Lebensbezug herzustellen und damit eine Brücke zwischen Geschichte und eigener Erfahrung zu schaffen erweist sich als problematisch. Prozesse der Nostrifizierung, bei dem weniger Gefühle und Erfahrungen anderer nachvollzogen werden, sondern der Andere für eigene Erfahrungen vereinnahmt wird, führt dazu, dass die spezielle historische Situation des Holocaust gerade nicht verstanden wird. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen die Reaktionen von Schülern auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ("Holocaust-Mahnmal" - http://www.stiftung-denkmal.de/). So umstritten es wegen mangelnder "Authentizität" ist, so bietet es der vierten Generation über die Wahrnehmung als Kunst einen Ansatz zur Auseinandersetzung mit dem Thema.

Zeitgeschichte - Implikationen für die (prä)historische Archäologie?
Das Heft aus Parlament und Zeitgeschichte handelt explizit von der Zeitgeschichte. Es illustriert zugleich die  Instrumentalisierung der Geschichte für eine demokratische politische Bildung. Von Borries spricht in seinem Beitrag die "liaison dangereuse von Geschichtspolitik, Zeitzeugenkultur und Wissenschaft " an und verweist auf das Risiko, dass dadurch die andauernde Infragestellung des allgemein Anerkannten und damit die Weiterentwicklung der Wissenschaft gefährdet sei.
Für die Archäologie ist die Problemlage einer Instrumentalisierung der Geschichte sicherlich eine andere, da - jedenfalls in den gewohnten Forschungsfeldern etwa der Ur- und Frühgeschichte - keine unmittelbare emotionale Betroffenheit gegeben ist. Forschungsergebnisse sind in der Regel von weniger offensichtlicher Bedeutung für aktuelle Handlungsweisen. Und doch ist gerade die Archäologie ein gebranntes Kind. Die deutsche Forschungsgeschichte ist voll von Situationen, in denen sich Archäologen bewusst oder unbewusst haben instrumentalisieren lassen - oder die (Vor)Geschichte instrumentalisiert haben. Archäologie als identitätsstiftende Wissenschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts (vgl. Archaeologik: Die württembergische Landesaufnahme) oder als Legitimation für deutsche Gebietsansprüche im Osten und als Rechtfertigung für einen Eroberungskrieg sind hier nur zwei prominente Beispiele (vgl. Archaeologik: Beiträge zu Archäologie und Nationalsozialismus). Aber auch in der jüngeren Vergangenheit und für unsere eigene Arbeit stellt sich die Frage, ob und wo und wie wir uns instrumentalisieren lassen. Der Beitrag von Marcel Siepmann verweist auf die Europa-Idee, die in den vergangenen Jahren auch die Archäologie und ihre Interpretationen stark beeinflusst hat. Das Ende der Teilung Europas hat zu einer stärkeren Vernetzung der Archäologie in Europa geführt. Die Entstehung der European Association of Archaeology, des MERC (Medieval Europe Research Congress - auf facebook) oder speziellerer Vereinigungen wie der Ruralia begünstigen vergleichende Perspektiven jenseits einer nationalen Geschichte. Kritisch wird es erst, wenn die Europa-Idee politisch unterstützt weit in die Vergangenheit zurückprojeziert wird: Zahlreiche Ausstellungen haben seit den 1990er Jahren versucht, eine europäische Union weit zurück in der Vor- und Frühgeschichte zu fassen: Eine "Kampagne des Europarats" propagierte "Die Bronzezeit - Das goldene Zeitalter Europas". Das Vorwort des Kataloges zur Ausstellung "Europas Mitte um 1000", die in den Jahren 2000 bis 2002 in Budapest, Krakau, Berlin, Mannheim, Prag und Bratislava als 27. Europaratsausstellung gezeigt wurde, formulierte: "Menschen und ihre Herrscher strebten vor tausend Jahren das Gleiche an, was die Bevölkerungen und ihre Regierungen im Jahre 2000 zu festigen bestrebt sind". So positiv mir eine Förderung der Europa-Idee noch immer scheint, das ist ein außerwissenschaftliches Ziel und die richtige Balance zu finden und die wissenschaftliche Distanz zu behalten, ist schwierig.
Das Problem ist nicht, dass aktuelle Themen und 'Moden' aufgegriffen werden. Im Gegenteil - das ist meines Erachtens prinzipiell notwendig, denn hier liegt eine wesentliche Legitimation historischer und archäologischer Forschung. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass dadurch kritische Distanz verloren geht - entweder weil mit unhinterfragtem Allgemeinwissen ("gesundem Menschenverstand") argumentiert wird und damit bestehendes Wissen bestenfalls reproduziert wird oder weil Förderungsprogramme bestimmte Themen vorgeben (vergl. von Rüden 2012, 53). Sinngemäß gibt es auch für die Archäologie eine liaison dangereuse von Geschichtspolitik, Zeitgeist und Wissenschaft. Erforderlich ist, dass sich Archäologen eben nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Zeitgeschichte und Gegenwart auseinandersetzen. Nur so ist es möglich, die allgegenwärtigen Instrumentalisierungen von Geschichte zu erkennen und ihnen gegebenenfalls zu entgehen. Die Europa-Idee in der Archäologie, wie sie in den genannten Ausstellungen zum Tragen kam, war meist wenig hinterfragt. Ob Überlegungen, wie sie Siepmann zu einem europäischen Geschichtsbild für die Archäologie ein brauchbares Narrativ ergeben, wäre zu diskutieren.
    
In den verschiedenen Beiträgen tritt immer wieder ein Aspekt auf, nämlich der der historischen Meistererzählung und des historischen Narrativs. In der deutschen Archäologie wurde das Thema erst in jüngster Zeit erkannt (Veit 2010). Hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wenn man sich einmal von dem Format des Grabungsberichtes, der Funddiskussion mit Katalog löst und versucht, tatsächlich historische Aussagen zu treffen. Derzeit werden die Narrative von außen an die Archäologie herangetragen, wenn etwa Biologen archäologisch überlieferte Kulturentwicklungen analysieren und eine Geschichte des Kollaps erzählen (Diamond 2006) - oder wenn, besonders im Bereich der historischen Archäologie, die Kategorien der Schriftquellen die analytische Ebene bestimmen. Die Identifikation schriftlich überlieferter Sozialgruppen oder historischer Persönlichkeiten ergibt eben kein archäologisches Narrativ (vergl. Historische Archäologie - ein Opfer der Geschichte? Archaeologik 5.4.2013).
Tatsächlich werden Narrative heute nicht mehr allein von der Wissenschaft kreiert. Von Borries weist in seinem Beitrag darauf hin, dass sich hier die Eckkoordinaten verändert haben. "Stärker als bisher werden wir uns über die Ausrichtung unserer Publikationstätigkeit Gedanken machen müssen: Die Hoffnung, dass Geschichtsbilder „gemacht“ werden, indem gelehrte Männer und Frauen sich die Köpfe auf Veranstaltungen darüber zerbrechen, wie die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu interpretieren sei, gehört der Vergangenheit an" (von Borries). Durch die neuen Medien ist die Schaffung von Geschichtsbildern keine ausschließliche Angelegenheit der Wissenschaft mehr. - Es gibt verstärkte Diskussionen um historische Themen unter Laien, die sich selbst ihre Meistererzählungen und Interpretationen schaffen, oft abseits wissenschaftlicher Prinzipien. Möchte man den Stellenwert kritischen Denkens und systematischer Analyse erhalten, muss sich die Wissenschaft in diese neuen Foren einbringen.
Geschichtsreflektion und eine theoretische Auseinandersetzung mit Geschichtsbildern war früher stärker in der Mediävistik verankert, hat sich, jedenfalls in meiner eventuell defizitären Perspektive in den vergangenen Jahren verstärkt in die Zeitgeschichtsschreibung verlagert. Für Archäologen, die sich schon immer schwer damit taten, die Geschichtstheorie zu rezipieren, läuft das Themenfeld damit Gefahr, weiter aus dem Gesichtsfeld zu verschwinden - für die sich etablierende Neuzeitarchäologie wird es eine wichtige Aufgabe sein, hier die Vermittlerrolle einzunehmen.

Literaturverweise  
Diamond 2006
J. Diamond, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen (Frankfurt 2006).
 

von Rüden 2012:
Constance von Rüden, Der Tigersprung ins Vergangene - ein Plädoyer für eine Kritische Archäologie. Forum Kritische Archäologie 1, 2012, 52-56
 

Veit 2010
U. Veit, Zur Geschichte und Theorie des Erzählens in der Archäologie. Eine Problemskizze. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 51, 2010, 10-29.

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