Seiten

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Durch die Steppen Osteuropas - Russisch-ungarische Forschungen im Südural

ein Gastbeitrag von Attila Türk

Die archäologische Erforschung der Ungarischen Frühgeschichte hat in den letzten Jahren einen erneuten Aufschwung genommen, nachdem ältere Forschungen der 1970er/80er Jahre abgebrochen waren. An der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wurde eine Forschergruppe eingerichtet (http://www.arpad.btk.mta.hu/), am Archäologischen Fachbereich der katholischen Pázmány Péter Universität Piliscsaba (https://btk.ppke.hu/karunkrol/intezetek-tanszekek/tortenettudomanyi-intezet/regeszeti-tanszek) wurde das Forschungsfeld neu etabliert.
Ungarisch-Russisches Grabungsteam
(Foto: A. Türk)
Der wichtigste Unterstützer der Expedition ist der Fond für ost- und mitteleuropäische Forschung und Ausbildung (Kelet- és Közép-európai Kutatásért és Képzésért Alapítvány). Dieser Institutionalisierung waren in den letzten drei bis vier Jahren zahlreiche Neufunde in Osteuropa vorausgegangen, für die man einen Zusammenhang mit den Vorfahren der Magyaren vermutet. Jedenfalls zeigen sich signifikante Analogien zwischen der Ural-Region und den Karpaten. Auf eine Ukrainische Initiative hin kam es 2011 zu einer internationalen Tagung über die Archäologie der ungarische Frühgeschichte (mit dem Titel: „Die Ungarn an der eurasischen Steppe – Мадьяры евразийских степей”). Eine zweite Konferenz fand im August 2013 in Russland statt, an der Kollegen aus Russland, der Ukraine, Kazachstan und Ungarn teilnahmen.


Geophysikalische Prospektion in Uelgi
(Foto: A. Türk)
Uelgi im Südural
Die meisten und besten Analogien zu den landnahmezeitlichen Fundkomplexen des Karpatenbeckens sind in den Waldsteppenregionen im Ural-Gebiet, insbesondere aus Uelgi (Уелги) im Südural bekannt. Deshalb wurde dieser Fundort für erste Untersuchungen gewählt. Nachdem zuletzt vor über 30 Jahren ein gemeinsames russisch-(bulgarisch-)ungarisches Grabungsprojekt in der Siedlung von Mayatsky am Don stattgefunden hat, sind die Grabungen in Uelgi im Sommer 2013 der Neubeginn einer ungarisch-russischen Zusammenarbeit zur Frühgeschichte der Steppenvölker.
Russische Kollegen arbeiten an der Fundstelle bereits seit 3 Jahren und vermutlich werden sie noch viele Jahre dort ausgraben. Es handelt sich um ein Gräberfeld, das vom 8. bis ins 13. Jahrhundert belegt wurde. Die aktuellen Forschungen konzentrieren sich auf die Bereiche des 8. bis 10. Jahrhunderts. Die Russischen Partner waren an Expertisen in der Paläoanthropologie, Geophysik und der Archäologie des Karpatenbeckens interessiert. Der Paläoanthropologe (Balázs Gusztáv Mende PhD) hat die bisher geborgenen Skelettreste bearbeitet und DNA-Proben genommen, die mit einer DNA-Datenbank von paläogenetischem Material des 10. Jahrhunderts aus dem Karpatenbecken abgeglichen werden sollen. Gábor Bertók PhD führte eine geophysikalische Prospektion durch, um die exakte Ausdehnung des Gräberfeldes zu bestimmen.

Funde der Saltovo-Kultur
Während der zweiwöchigen gemeinsamen russisch-ungarischen Grabungskampagne wurden mehrere charakteristische vergoldete Beschläge mit Pflanzenornamentik gefunden. Sie stammen aus einem Fundkontext, der durch mehrere Funde ins 9. Jahrhundert datiert ist. Die räumlich nächsten Parallelen stammen aus dem Karpatenbecken. Dieser Befund ist insofern schwierig zu verstehen, weil man ähnliche Funde in Moldavien erwarten würde, die zumindest bisher aber fehlen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Funde im Südural die Hinterlassenschaft einer im Osten zurückgebliebenen magyarischen Gruppe darstellen – allerdings sind solche ethnischen Interpretationen nur mit größter Vorsicht zu nehmen. Die Funde rechnen zur Saltovo(-Majatski)-Kultur, die man mit dem aus den Schriftquellen bekannten altungarischen Siedlungsgebiet Levedien gleichgesetzt hat. Das vorrangige Forschungsziel ist es, die Zusammenhänge zwischen diesem Fundmaterial am Ural und den Funden des 10. Jahrhunderts im Karpatenbecken genauer zu verstehen.
Eine einfache ethnische Interpretation archäologischen Fundmaterials, wie sie früher üblich war, ist heute überholt. Die aktuellen Forschungen gelten nicht den ’Altmagyaren’, sondern fragen nach dem Kommunikationssystem des 10. Jahrhunderts weit nach Osten und hinterfragen die östlichen Wurzeln der materiellen Kultur des Karpatenbeckens.

Funde der Kampagne 2013 aus Uelgi. Ähnliche Stücke sind aus dem Karpatenbecken bekannt.
(Foto: A. Türk)

Kulturkontakte der Steppennomaden
Generell ist aber festzuhalten, dass ähnliche Funde wie in Uelgi – Gürtelteile und Beschläge des Pferdegeschirrs – auch weiter westlich, in der Ukraine, in der Region am mittleren Dnjepr gemacht wurden. Sie gehören dort zum sogenannten Subotcy-Fundhorizont, der mittels Radiokarbon-Datierung in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts datiert wird. Die Fundkomplexe dieses Horizonts passen gut zu den Informationen aus schriftlichen Quellen, die darüber berichten, dass die Vorfahren der Magyaren im sog. Etelköz-Gebiet gesiedelt hätten. Allerdings lässt sich der Subotcy-Fundhorizont nicht unmittelbar mit den Funden der Saltovo-Kultur im Südural verbinden, sondern er zeigt vielfältige Traditionslinien etwa auch nach Baschkirien, einer an der Wolga am Westfuß des Ural gelegenen Region

Funde aus Uelgi mit entsprechenden Analogien aus dem Karpatenbecken.
(Foto: A. Türk)

.
Der Übergang der Altmagyaren in der Region Samara über die Wolga, und ihre Wanderung nach Westen wird heute später datiert, als man früher angenommen hat. Wahrscheinlich überquerten sie den Südural nicht vor dem ersten Drittel des 9. Jahrhunderts. Demnach erfolgte die Wanderung aus dem Südural-Gebiet ins Karpatenbecken viel schneller als bisher gedacht: sie nahm wohl einen Zeitraum von lediglich etwa 50 bis 60 Jahren ein. Dieses Bild wird durch neue Ergebnisse über den Austausch zwischen der Saltovo-Kultur (vergl. Türk 2012a) und dem Karpatenbecken gestützt: Die Saltovo-Kultur zeigt auf Grund der archäologischen Quellen allerdings nur recht geringe Beziehungen zum Karpatenbecken. Weitere archäologische Forschungen und Ausgrabungen in Russland, der Ukraine und Moldawien werden dieses Bild hoffentlich präzisieren.



(deutsche Textfassung: Szabina Merva/ Rainer Schreg)

Literaturhinweise

Botalov u.a. 2011
S.G. Botalov / A.A. Lukinyh / E.V. Tideman, Погребальный комплекс могильника Уелги – новыйсредневековый памятник в Южном Зауралье. Челябинский Гуманитарный Научный Журнал 2011 (15), 104−114 (russischer Text online bei facebook - https://www.facebook.com/media/set/?set=a.534487133291801.1073741828.170249629715555&type=3)

Botalov 2012
S.G. Botalov, Новые аспекты и перспективы в исследовании проблемы «Magna Hungaria». Челябинский Гуманитарный Научный Журнал. 2012 (11), 128−146. (http://www.lib.csu.ru/vch/265/022.pdf)

Fodor 2009
I. Fodor, Magyarország Története 1. Őstörténet és honfoglalás (Budapest 2009). – preview online: http://www.scribd.com/doc/63818405/Fodor-Istvan-Magyarorszag-tortenete-1-%C5%90stortenet-es-honfoglalas

Komar 2011
A.V. Комар, Древние мадьяры Етелькеза: перспективы исследований. In: Мадяри в Середньому Подніпров'ї. Археологія і давня історія України. Випуск 7. Київ 2011, 21–78. – online bei academia.edu http://www.academia.edu/2148588/_._._

Türk 2012a
A. Türk, Zu den osteuropäischen und byzantinischen Beziehungen der Funde des 10.–11. Jahrhunderts im Karpatenbecken. In: B. Tobias (Hrsg.) Die Archäologie der frühen Ungarn. Chronologie, Technologie, und Methodik. RGZM-Tagungen 17 (Mainz 2012) 3–28. – online bei academia.edu: http://www.academia.edu/2700107/Zu_den_osteuropaischen_und_byzantinischen_Beziehungen_der_Funde_des_10.-11._Jahrhunderts_im_Karpatenbecken

Türk 2012b
A. Türk, The new archaeological research designed for early Hungarian history. Hungarian Archaeolgy. E-Journal. www.hungarianarchaeology.hu. 2012 Summer – online bei academia.edu: http://www.academia.edu/1899093/The_new_archaeological_research_designed_for_early_Hungarian_history

Türk 2013
A. Türk, Archäologische Daten zu einigen Details der Taschen- und Feuergerätefunde des 10. Jahrhunderts im Karpatenbecken im Spiegel ihren osteuropäischen Analogien. – Archeologické pramene k niektorým konštrukčným prvkom taštičiek a k predmetom na zakladanie ohňa z 10. storočia z územia Karpatskej kotliny vo svetle východoeurópskych analógií. Slovenská Archeológia 61/1 (Bratislava 2013) 177–198. – online bei academia.edu: http://www.academia.edu/4441209/Archaologische_Daten_zu_einigen_Details_der_Taschen-_und_Feuergeratefunde_des_10._Jahrhunderts_im_Karpatenbecken_im_Spiegel_ihren_osteuropaischen_Analogien

 

Links


Attila Türk hat über die Saltovo-Kultur und ihre Bedeutung für die ungarische Frühgeschichte promoviert. Er arbeitet als Archäologe unter anderem an der Universität Piliscsaba.
https://btk.ppke.hu/karunkrol/intezetek-tanszekek/tortenettudomanyi-intezet/regeszeti-tanszek/oktatok/turk-attila


This research was supported by the European Union and the State of Hungary, co-financed by the European Social Fund in the framework of TÁMOP 4.2.4. A/-11-1-2012-0001 ‘National Excellence Program’.

Änderungsvermerk
19.12.2013: Foto mit Funden aus Uelgi und Analogien aus dem Karpatenbecken ergänzt
9.1.2014: Projektreferenz am Ende ergänzt


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Rückmeldungen und Kommentare sind herzlich willkommen! Werbung, Propaganda, Hasskommentare und dummes Gesäure werden aber nicht freigeschaltet. Und: Ein Kommentar ist gleich viel mehr wert, wenn Sie mit Ihrem Namen dazu stehen.