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Freitag, 25. Juli 2025

Anfänge - Probleme und Paradigmen der Kulturanthropologie, Archäologie und Geschichte



David Graeber/ David Wengrow


Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit
(Stuttgart: Klett-Cotta 2022)
ISBN 9783608985085

inzwischen 4. Aufl., 2024 als Paperback
sowie - inzwischen schon vergriffen - als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung (Bonn 2022)


The Dawn of Everything. A New History of Humanity
(London: Penguin 2022)
ISBN 9780141991061



Nur wenige Prähistoriker haben sich an großen Geschichtsdeutungen versucht. Das gilt insbesondere für die deutsche Forschung, wo solche Arbeiten - wenn nicht sowieso schon national verengt - stets sehr deskriptiv und materiallastig geblieben sind (z.B. Müller-Karpe 1998) - begründet im Selbstverständnis der deutschen Forschung als Geschichtswissenschaft. Entsprechende prähistorische Weltgeschichten des englischsprachigen Raums boten da zumeist spannendere Narrative an. Erinnert sei an Gordon Childe, auf den die Vorstellung der neolithischen Revolution zurückgeht (Childe 1936).

David Graeber und David Wengrow (im folgenden nenne ich sie meist kurz G&W) präsentieren nun ein neues universal(vor)geschichtliches Narrativ. Es ist in positivem Sinne ein anarchistisches Geschichtsbild, das sich bemüht, Vorurteile alter weißer Männer zu entlarven und einer eurozentrierten Sicht ein Bild gegenüber zu stellen, das Indigene, Frauen, Wildbeuter*innen und “Primitive“ als gleichwertig begreift und Fortschrittsdenken und Überlegenheitsideen als historischen Unsinn entlarvt. Die gängige Erzählung einer Evolution egalitärer Jäger- und Sammlergesellschaften, einer neolithischen Revolution mit dem Beginn von Sesshaftigkeit und Landwirtschaft als Ausgangspunkt der Entwicklung sozialer Ungleichheit und politischer Hierarchien bis hin zu modernen, industrialisierten Gesellschaften wird dekonstruiert und durch das Bild plural strukturierter Gesellschaften ersetzt, deren Entwicklung nicht durch ökonomische oder ökologische Gesetzmäßigkeiten vorgegeben war, sondern durch kollektive Entscheidungen bestimmt wurde.

Ich halte das Gesamtbild für außerordentlich plausibel, wenn auch an einigen Punkten erhebliche Zweifel angebracht sind und eine weniger idealistische Sicht den historischen und anthropologischen Realitäten näher kommen dürfte. Ein wichtiger Knackpunkt ist, dass manche der Detailinterpretationen unter einer Dürftigkeit der Quellenbelege leidet, aber sehr bestimmt formuliert wird. Oft wird dem etablierten - häufig nur grob skizzierten - Bild der Forschung eine neue Sicht auch nur mit einer sehr verkürzten Argumentation gegenübergestellt. Das liegt im umfassenden Thema begründet, denn G&W haben so schon ein dickes Buch vorgelegt, in dem man die zahlreichen Beispiele unmöglich in aller Ausführlichkeit darstellen kann. Allerdings ist auch festzustellen, dass das Buch andererseits gerade bei der Darstellung mancher Beispiele Längen aufweist, die den Leser vom Gesamtbild eher weg führen. 
 

Eine anarchistische Perspektive

Festzuhalten ist, dass David Graeber (1963-2020), der kurz nach Fertigstellung des Buchs verstorben ist, als Kulturanthropologe Professor an der Yale University, dann an der UCL und der London School of Economics and Political Science war und eine anarchistische Anthropologie vertrat. Schon 2004 publizierte er "Fragments of an Anarchist Anthropology" (dt.: Graeber 2023), mit der er aufzuzeigen versuchte, dass unsere Gesellschaft so nicht selbstverständlich ist, sondern dass es unzählige Möglichkeiten gäbe, Gesellschaften anders zu organisieren. Anthropologie ist in dieser Sicht nicht nur eine Inspiration für alternative Lebens- und Gesellschaftsmodelle, sondern hinterfragt auch die Grundlagen unserer eigenen Gesellschaftstheorien. In seinem Buch "debt" (dt. Schulden [Graeber 2022]) nutzte Graeber eine historische Perspektive, um beispielsweise die Theorie des Geldes, eine Grundlage der modernen Ökonomie, in Frage zu stellen. Hier griff Graeber bereits bis nach Mesopotamien aus und nahm auch archäologische Quellen in den Blick. Graebers Kritik an der modernen Gesellschaft richtet sich gegen unsere Hinnahme gegenwärtiger Missstände als alternativlos. 2011 war Graeber einer der Köpfe von “Occupy Wall Street”. 



David Graeber 2015
(Foto: Guido van Nispen -  CC BY 2.0 via WikimediaCommons [Ausschnitt])


Eng verbunden mit der anarchistischen Perspektive ist auch der Freiheitsbegriff, der in dem Buch erscheint. Für G&W bedeutet Freiheit 1.) die Freizügigkeit des Reisens (“freedom of movement”), 2.) die Freiheit, nicht zu gehorchen (“freedom to disobey”) und 3.) die Freiheit, sich sozial neu zu organisieren (“freedom to shape new social realities”). Das steht im Gegensatz zu dem Freiheitsbegriff, der gerade die Oberhand gewinnt, der die Freiheit des Konsums, die Freiheit des Lügens und die Freiheit von Empathie und Verantwortung in den Mittelpunkt stellt. 

Die Kernthesen

Dieser Freiheitsbegriff liegt vielen Thesen zugrunde, die G&W vertreten. Ihre Kernthesen sind:
  1. Komplexität in menschlichen Gesellschaften benötigt und impliziert nicht zwingend Hierarchien und autoritäre Regime
  2. indigenes Denken aus Nordamerika hatte Einfluss auf die europäische Aufklärung
  3. Vielfalt von Wirtschaftsmodellen und sozialer Organisation
  4. keine unumkehrbare agrarische (neolithische) Revolution
  5. keine zwingende und unumkehrbare Staatenbildung und auch keine evolutionäre Abfolge von Gesellschaftsmodellen

G&W begründen diese Thesen aus einer Synthese archäologischer und kulturanthropologischer Einzelfälle, die vom Jungpaläolithikum bis ins 18. und teilweise gar 20. Jahrhundert reichen und prinzipiell den gesamten Globus abdecken. Der deutsche Titel „Anfänge“ mehr noch als der englische „The Dawn of civilization“ hat mich indes erwarten lassen, dass der Blick in der menschlichen Evolution noch weiter zurück reicht und die alten Themen der Sprache, der Feuernutzung und des Fleischverzehrs behandelt werden. Selbst die eiszeitlichen Anfänge menschlicher Kunstpraxis sind nicht Teil der Darstellung.

Bisherige Untersuchungen konzentrierten sich laut G&W einseitig auf die Ursprünge sozialer Ungleichheit und folgten dem Narrativ der Anfänge etwa in Bezug auf die Anfänge von Sesshaftigkeit, Landwirtschaft, städtischer Zivilisation, von Staaten oder der Herausbildung des Eigentums. Solche Versuche seien zum Scheitern verurteilt, denn die Vorstellung eines weitgehend kontinuierlichen, evolutionären Fortschritts in der Geschichte sei ein Mythos.

Als verallgemeinerndes Statement ist das sicherlich wahr, doch sei angemerkt, dass selbst in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine Entwicklung stattgefunden hat, hin zu einer Sozialarchäologie, die die Gesellschaft in all ihren Aspekten erforscht und sich nicht mehr auf die Frage der Sozialstrukturen - konkret bedeutete dies Hierarchien und ethnische Interpretationen - konzentriert. Allmählich werden diese Narrative in der Archäologie zunehmend reflektiert. Noch immer allerdings dominieren in der Wissenschaftskommunikation, aber auch in der Forschung Narrative des Ältesten und der Anfänge. G&W greifen das in ihrem Titel zwar auf, ihr zentrales Narrativ ist aber das der Transformation, der Diversität von Gesellschaften und der Bedeutung herrschaftsarmer Gesellschaftsorganisationen.



Inhalt
  1. Abschied von der Kindheit der Menschheit. Oder warum dies kein Buch über die Ursprünge der Ungleichheit ist (Das Problem des Urzustands)
  2. Sündhafte Freiheit. Indigene Kritik und Fortschrittsmythos (Die Ideen von Jean-Jacques Rousseau und ihre indigenen Wurzeln)
  3. Die Eiszeit auftauen. Mit oder ohne Ketten: die proteischen Möglichkeiten menschlicher Politik (saisonal wechselnde Formen sozialer Organisation, Ungleichheiten im Jungpaläolithikum)
  4. Freie Menschen, der Ursprung der Kulturen und die Entstehung des Privateigentums. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge (warum setzt sich das Prinzip des Privateigentums durch?)
  5. Vor langer Zeit. Warum kanadische Jäger und Sammler Sklaven hielten und ihre kalifornischen Nachbarn nicht – oder das Problem der Produktionsweisen“ (gegen evolutionistische Modelle, Gleichzeitigkeit von egalitären und hierarchischen Organisationsformen, oft in nachbarlichem Gegensatz)
  6. Die Adonisgärten. Die Revolution, die niemals stattfand: wie jungsteinzeitliche Völker die Landwirtschaft umgingen (keine neolithische (agrarische) Revolution, sondern Vielfalt der Möglichkeiten)
  7. Die Ökologie der Freiheit. Wie die Landwirtschaft erst einen Sprung nach vorn machte, dann strauchelte und sich schließlich um die ganze Welt mogelte (zahlreiche Ansätze der Neolithisierung, viele als Mangelwirtschaft und nicht von Dauer)
  8. Imaginäre Städte. Eurasiens erste Städter - in Mesopotamien, dem Indus-Tal, der Ukraine und China - und wie sie Städte ohne Könige erbauten (frühe Städte als soziale Experimente (Trypillia-Megasites, Mesopotamien, Indus-Kultur))
  9. Im Verborgenen schlummernd. Die indigenen Ursprünge des sozialen Wohnungsbaus und der Demokratie in Amerika (Mesoamerika: Nebeneinander demokratischer und autoritärer Organisationen)
  10. Warum der Staat keinen Ursprung hat. Die bescheidenen Anfänge von Souveränität, Bürokratie und Politik (Aspekte sozialer Macht: Gewaltkontrolle (Souveränität), Informationskontrolle (Verwaltung) und individuelles Charisma (Heldengesellschaft))
  11. Der Kreis schließt sich. Über die historischen Grundlagen der indigenen Kritik (Die Irrtümer des europäischen Denkens: Primat der Ökonomie, Hierarchien und Evolution)
  12. Schluss. Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit (Triebkräfte der Geschichte und die Rolle der Freiheit)
  • Anhang



Die außereuropäischen Wurzeln der europäischen Aufklärung

Zu Beginn postulieren G&W, dass die europäische Aufklärung und ihre grundlegenden Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sehr viel den Begegnungen mit indigenen Denkern und „Staatsmännern“ zu verdanken haben. Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) Vorstellung der Geschichte als Niedergang beruht auf der Idealisierung des edlen Wilden, der durch Einführung des Privateigentums seine Freiheit und Autonomie verloren habe. Die europäisch-westliche Tradition der modernen Gesellschaftsideen setzt den Staat und die Überlegenheit westlicher Gesellschaftsmodelle voraus. Festzuhalten ist, dass diese Gesellschaftstheorien in der Zeit der europäischen Expansion entstehen und sich direkt oder indirekt mit indigenen Gesellschaften als Kontrast beschäftigten. G&W verweisen auf die Attraktivität, die indigene Gesellschaftsmodelle unter Zeitgenossen, die diese aus eigener Anschauung kannten, häufig entwickelten. Zwar ist die Devise „zurück zur Natur“ fälschlich Rousseau zugeschrieben, sie verdeutlicht aber die Bedeutung einer imaginierten natürlichen Lebensweise für die europäische Aufklärung und die westliche Revolutionsbewegung.

In den Aufzeichnungen von Louis-Armand de Lom d’Arce (Dialogues de M. le baron de Lahontan et d'un sauvage, dans l'Amérique) ist eine indigene Gesellschaftstheorie überliefert, die Kondiaronk (1649-1701), Staatsmann („Häuptling“) der Wendat (“Huronen”) im französischen Kanada geäußert haben soll. Seine Kritik an der europäischen Zivilisation kontrastiert die eigene Wendat-Zivilisation mit allgemeiner Gleichheit, der Abwesenheit von Privateigentum und fehlender Institutionen politischer Macht. Nach europäischen Vorstellungen ist dies eine anarchistische Gesellschaft. G&W argumentieren für die Authentizität der Quelle und nehmen die Schilderung als Ausgangspunkt, um sich mit indigenen Gesellschaften auseinanderzusetzen, die sie Rousseaus Idealisierung entgegen setzen, um die Paradigmen der europäischen Gesellschaftstheorien zu entlarven (S. 41ff.). 
 
Nicht nur Rousseau soll von gesellschaftlichen Ideen indigener Gesellschaften Nordamerikas beeinflusst sein. Sie konstatieren gegen Ende des Buchs (S. 513), auch Montesquieu habe in seiner Staatstheorie, die versucht, Recht und Freiheit durch ein System der Gewaltenteilung so zu organisieren, dass die Freiheit des Individuums gewährleistet bleibt, indirekt indianische Erfahrungen aufgegriffen. Solche Regelungen habe es in Nordamerika schon vor der amerikanischen Verfassung bei indigenen Stämmen gegeben. G&W verweisen auf die Osage in den Great Plains, die nach wohl dramatischen Erfahrungen mit dem Cahokia-Staat ihre Verfassung immer wieder angepasst haben, um Kontrollmechanismen zu behalten (S. 506ff.).

Der Mythos von egalitären Urgesellschaften

Unter anderem mit Verweis auf jungpaläolithische Frauenbestattungen weisen G&W die Vorstellung zurück, Jäger- und Sammlergesellschaften seien egalitär gewesen. Bestattungen sind durchaus reich ausgestattet; als Indiz für eine bereits hierarchische Gesellschaft können sie aber auch nicht gewertet werden, da die Skelettreste mehrheitlich körperliche Besonderheiten aufweisen, was sie zu besonderen Individuen macht (S. 121).

Mit ethnographischen Beispielen argumentieren G&W für die Bedeutung saisonaler Hierarchien, die einem temporären Organisationsbedarf gerecht werden können, aber durch Ritualordnungen kontrolliert und zeitlich begrenzt sind. Die Autoren charakterisieren „primitive Gesellschaften” “durch flexible multiple Organisationsformen, die sehr praktisch eine Verhinderung von Machtkonzentration leisten” (S. 132ff.). Generell seien Wildbeuter sehr experimentierfreudig, was die Sozialstruktur betrifft (S. 140) und radikale Zerschlagungen und Neuordnungen seien in ihrer Gesellschaft nicht selten.

G&W verweisen darauf (S. 162ff.), dass egalitäre Ordnungen auch als Reaktion auf hierarchisch organisierte Nachbarn verstanden werden können. Im Laufe des Bandes werden immer wieder Situationen angesprochen, in denen sich benachbarte Gesellschaften in Abgrenzung zueinander unterschiedlich organisieren und egalitäre und autokratische Gesellschaften einander bedingen. Die These einer allgemeinen Evolution von egalitären zu autoritären Gesellschaften wird somit unwahrscheinlich. Das Nebeneinander unterschiedlicher Gesellschaftsformen erscheint immer wieder als Muster.

Neolithisierung

Breiten Raum nimmt in den „Anfängen“ die Neolithisierung ein. Das gängige (Vor-)Geschichtsbild ginge von einem Gegensatz zwischen Jäger/Sammlern einer- und Bauern andererseits aus, was dazu führe, dass wir uns auch die Lebensweisen ganz gegensätzlich vorstellen (S. 273).
 

Jäger/ Sammler

Bauern

mobil, nicht sesshaft

sesshaft

passiv sammelnd

aktiv produzierend

ohne Privatbesitz

Privatbesitz

egalitär

ungleich


Abweichungen von diesem Schema würden als Übergangsform hin zur Landwirtschaft, bestenfalls als Ausnahmen gelten. Derartige Vorstellungen haben etwa bei der Beurteilung des Nomadismus dazu beigetragen, diesen als rückständig und als Vorstufe zur Sesshaftigkeit zu begreifen. Bis heute können damit “Ansiedlungsversuche” im Namen des Fortschritts legitimiert werden. G&W wenden sich gegen die Polarität von Jäger und Sammlern einer- und Bauern andererseits. Sie sehen vielmehr ein weites, kontinuierliches Spektrum von Wirtschaftssystemen.

Der Blick fällt, wie nicht anders zu erwarten, zunächst auf den „Fruchtbaren Halbmond“, nicht ohne Hinweis auf den kolonialistischen Hintergrund des Begriffs. Wichtig ist hier, dass innerhalb dieses Raums das Bergland und die Ebene trotz gegenseitiger Beeinflussung differenziert werden müssen.
G&W verbinden die beiden Regionen nicht nur mit unterschiedlichen Naturräumen, sondern auch mit unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen im Sinne der bereits angesprochenen gegensätzlichen Nachbarn.
In den Steppen- und Hochlandgebieten des fruchtbaren Halbmonds, also etwa auch im Zagros-Gebirge, errichtete man große Steinmonumente, die mit männlicher Potenz und dem Beutemachen in Bezug stehen. In den Tieflandgebieten an Euphrat und Jordan ist die Symbolik hingegen mehr auf Frauen bezogen. Neben weiblichen Figurinen sind für diese Symbolwelt auch die „Schädelporträts“ zu nennen, die hier bis in das Natufien zurückreichen und wie sie beispielsweise aus Jericho bekannt sind (S. 270ff.).
 
Wirtschaftlich gesehen kam es lokal zu einer Spezialisierung auf Pflanzenanbau bzw. Tierhaltung. Diese Entwicklungen fanden nicht an einem zentralen Ort, sondern verstreut über verschiedene Teile der Region statt. Anscheinend verfolgten die Gemeinschaften Strategien lokaler Produktion, um langfristige Handelsbeziehungen zu etablieren, versuchten aber auch, den Zugang zu günstigen Gebieten für ihre nach wie vor wichtigen Jagd- und Sammelaktivitäten zu gewährleisten, die weiterhin parallel zum Ackerbau betrieben wurden. Dieser Handel stand möglicherweise weniger im Zeichen materieller Vorteile als vielmehr mit sozialen Aspekten in Verbindung, wie Geselligkeit, Partnersuche oder Abenteuerlust. Ungeachtet der unterschiedlichen Beweggründe wurden lokal entwickelte Innovationen, wie der Anbau stabiler Weizenarten, deren Körner bei der Ernte nicht unkontrolliert abfallen, oder die Züchtung sanftmütiger Schafe, über Jahrtausende zwischen den Dörfern ausgetauscht. Dies trug zu einer gewissen Einheitlichkeit innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen des fruchtbaren Halbmonds bei.
In diesen Kontext gehören so berühmte Fundstellen wie Göbekli Tepe, Catal Höyük, Nevali Cori und Çayönü. Vor allem die beiden ersten werden relativ ausführlich besprochen, allerdings ohne, dass das Buch (egal welche Ausgabe) über hinreichende Abbildungen verfügt, die dem nicht vorgebildeten Leser eine Vorstellung von diesen Stätten geben könnten.
 
Göbekli Tepe 2012
(Foto: Zhengan, [CC BY SA 4.0] via Wikimedia Commons)

Göbekli Tepe: Stele mit Tierrelief
(Foto: Volker Höhfeld - CC BY-SA 4.0 via WikimediaCommons)


  
 
Grabungen in Catal Hüyük 2006
(Foto: Stipich Béla - CC BA SA  3.0 via WikimediaCommons)

 

Der Prozess der Neolithisierung nahm insgesamt eine sehr viel längere Zeit ein als bislang gedacht. Es handelt sich um eine Periode von fast 3000 Jahren, die daher weder als Revolution bezeichnet werden kann, noch einfach als Übergangsphase zu begreifen ist.
Das Frühneolithikum in Zentraleuropa dient G&W als Geschichte des Rückschlags (S. 286ff.). Die ersten Bauern werden als Underdogs zwischen erfolgreichen Jägern und Sammlern geschildert. Die Bauern füllten überwiegend die Lücken, die die Jäger und Sammler gelassen hatten, weil ihnen diese Regionen wenig attraktiv erschienen. Die Boomregionen der Zeit sehen die Fluss- und Küstenlandschaften, in denen es im frühen Holozän genügend Nahrungsressourcen gegeben habe. Die archäologische Überlieferung dafür ist jedoch ausgesprochen dünn, da die zentrale Siedlungslandschaft in Doggerland heute auf dem Grund der Nordsee liegt.
Dieses Bild widerspricht eklatant dem aktuell dominierenden Bild der Linearbandkeramik als einer überlegenen Kultur, die die einheimischen Mesolithiker rasch verdrängt hätte und aktiv die Lößlandschaften mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden besiedelt hätten. Für die LBK nehmen G&W ausgehend von Erdwerken und Massengräbern ein katastrophales Ende in Kriegswirren an. Sie sehen hier nichts Zyklisches, wie das beispielsweise Detlef Gronenborn herausgearbeitet hat, noch gehen sie überhaupt auf Klima- und Umweltfaktoren ein (vgl. Archaeologik 28.10.2015).

Der LBK werden aber „erfolgreiche“ Entwicklungen anderswo gegenübergestellt, nämlich in Ägypten, auf den ozeanischen Inseln (Taiwan und die Philippinen) (S. 291ff.) sowie in Amazonien (S. 295f.).
Landwirtschaft ermöglichte zahllose neue Lebensweisen und Rituale, sie stellte aber nicht das natürliche Ziel der Entwicklung dar. Vielmehr konstatieren G&W eine menschliche Experimentier- und Spielfreude, das Modell einer spielerischen Landwirtschaft, die durch eine Vielzahl von Subsistenzformen und Landnutzungspraktiken gekennzeichnet ist, von denen einige mehr, andere weniger erfolgreich waren. Landwirtschaft begann “häufig als Mangelwirtschaft. Sie wurde dann eingeführt, wenn nichts anderes mehr übrig blieb, weshalb sie meist in Gebieten aufkam, wo kaum oder wenig wilde Ressourcen verfügbar waren“ (S. 302). Eine spielerisch betriebene Landwirtschaft ergänzte das natürliche Nahrungsangebot und schuf eine „Ökologie der Freiheit“ (S. 275ff.).

Deshalb stellt sich die Frage, warum die Menschheit nicht schon früher neue Wirtschaftsformen entwickelt hat (S. 284ff.). Die Eiszeiten waren dem nicht förderlich, aber der Nabel der Welt war damals auch nicht nur die Alte Welt. Der Mensch im Eem vor etwa 130000 Jahren, damals überwiegend Neandertaler, war wohl keineswegs zu blöde, um neue Wirtschaftsformen zu entwickeln. Hier passt es ins Bild, dass neue Studien darauf hinweisen, dass bereits der Neandertaler vor 125000 Jahren in Mitteldeutschland zentralisiert und in großem Stil Knochenfett ausgekocht haben (Kindler u.a. 2025). Offenbar sind schon frühe Jäger und Sammler-Ökonomien wesentlich komplexer als bislang gedacht. Insofern sollte es nicht verwundern, wenn künftig auch frühere Belege für Landwirtschaft auftauchen. Der aktuelle Forschungsstand, vor allem aber auch die Überlegung, dass so manche spielerische Landwirtschaft kaum identifizierbare materielle Spuren oder sichtbare Domestikations- und Kultivierungsmerkmale entwickelt hat, setzen der Forschung hier Grenzen. Aktuell fehlen Belege und so ist bei aller Offenheit für neue Erkenntnisse darauf zu achten, dass phantastischen Spekulationen oder gar Verschwörungstheorien über geheim gehaltene versunkene Zivilisationen oder eine "Ancient Apocalypse" kein Raum gegeben wird.
 
Lepenski Vir am Donaudurchbruch des eisernen Tors in Serbien
 
Festzuhalten bleibt aber auch, dass unsere Klassifikation von Gesellschaften als neolithisch, proto- und paraneolithisch, mesolithisch und epi-paläolithisch (Uerpmann 1989) der historischen Realität wahrscheinlich nicht mehr gerecht werden, da sie zu sehr an ein Evolutionsparadigma gebunden sind.  So relativiert sich auch die Diskussion um die berühmte mesolithisch-frühneolithische Siedlung von Lepenski Vir in Serbien, die als sesshaftes Mesolithikum nie in ein solches Schema passte.
 

Urbanisierung

Die Anfänge städtischer Gemeinwesen verorten G&W nicht im Vorderen Orient, sondern verweisen auf die Megasites der Cucuteni-Tripolje-Kultur bzw. Trypillia-Kultur in der Ukraine, allen voran auf Nebelivka, etwa 240 km südlich von Kiew. Es handelt sich um große Siedlungen mit recht gleichartigen Grundrissen, die auch keine privilegierten Positionen innerhalb der Siedlung erkennen lassen. Allerdings sind Quartiere zu differenzieren, die etwa je zehn Haushalte umfasst haben dürften und denen jeweils ein Versammlungsraum zur Verfügung stand. Die Ernährung hatte einen relativ geringen Anteil an Fleisch, der trotz der Größe der Siedlungen überwiegend über Jagd gedeckt worden zu sein scheint. „Neben Weizen, Gerste und Hülsenfrüchten standen auch Äpfel, Birnen, Kirschen, Schlehen, Eicheln, Haselnüsse und Aprikosen auf dem pflanzlichen Speiseplan der Bewohner“ (S. 321), der sich durch eine bemerkenswerte Vielfalt auszeichnet - und wie G&W andeuten auch durch bewusste Nachhaltigkeit. Die Gesamteinwohnerzahl dieser zwischen etwa 4100-3300 v.Chr. existierenden Megastätten wird um die 10.000 geschätzt. Für G&W steht fest, dass diese Einheitlichkeit der Megastätten „von unten nach oben durch Prozesse lokaler Entscheidungsfindung“ (S. 322) entstand.


Rekonstruktion der Hochphase der Cucuteni-Trypillia Großsiedlung bei Maidanets'ke ca. 3800 v.Chr. von Susanne Beyer (Graphik Institut für Ur- und Frühgeschichte CAU Kiel)
(CC BY 4.0 via WikimediaCommons)

G&W entkoppeln damit auch die Entwicklung von Städten und frühstaatlichen Gesellschaften, verweisen gar darauf, dass möglicherweise gar nicht vollständig auf agrarischer Basis beruhende Gesellschaften in der Lage waren, große urbane Siedlungen zu entwickeln.

Daher stellt sich auch die Frage, wie sicher die Verknüpfung der mesopotamischen Städte mit zentraler Herrschaft ist (S. 325ff.). Das ist ein Kern der Vorstellungen der sog. urbanen Revolution, die insbesondere Gordon Childe formuliert hat (Childe 1950). Durch die Zeugnisse der Bibel denken wir im Hinblick auf Mesopotamien seit Beginn der Forschungen an eine Region der Stadtstaaten und Königreiche mit einer ausgeklügelten Administration, die auch für die Entwicklung der Schrift verantwortlich war. Bauleistungen für die Städte oder auch Bewässerungssysteme sah man als obrigkeitlich eingeforderte Zwangsarbeit, wie sie in frühen mesopotamischen Texten als sehr alt bezeichnet und damit legitimiert wird (S. 327). G&W tragen demgegenüber Argumente zusammen, die für eher demokratische Strukturen bei der Urbanisierung der Region sprechen. So beteiligten sich Jahrhunderte später auch Könige an diesen Arbeiten, von denen sie nicht ausgenommen waren. G&W stellen das Paradigma in Frage, wonach große Gemeinschaften Ungleichheit und Herrschaft bedingen. Auch die Generalisierung der These „hydraulischer Gesellschaften“ nach Karl Wittfogel (1956) lehnen sie ab. 
In Uruk (S. 333ff.) ergeben die archäologischen Ausgrabungen wenig Aussagen zu den Lebensverhältnissen der Stadtbevölkerung im späten 4. Jahrtausend, um so mehr verraten die Keilschriftarchive, die zwar eine durchorganisierte Wirtschaft erkennen lassen, aber keinen König belegen können. Dennoch expandierte die Wirtschaft Uruks und gründete Außenposten wie etwa in Arslantepe in der südlichen Türkei, wo in der Uruk-Zeit ein Palast-Komplex entstand. In diesen Außenposten lässt sich ab etwa 3100v.Chr. archäologisch der Aufstieg einer Kriegeraristokratie beobachten, die G&W nach H.M. Chadwick als "Heldengesellschaft" bezeichnen. Chadwick beschrieb damit die mykenische Welt, wie sie sich vor allem in der Ilias widerspiegelt


Vase von Uruk-Warka
(Foto: Osama Shukir Muhammed Amin FRCP(Glasg),
CC BY SA 4.0 via WikimediaCommons)
 

Im weiteren gilt die Aufmerksamkeit der Autoren der Induskultur, die man lange als Staaten mit Priesterkönigen an der Spitze gesehen hat. Auch hier argumentieren G&W zugunsten einer eher relativ egalitären Gesellschaften (S. 342ff.). Am Beispiel der Induskultur und einiger buddhistischer Klöster wollen sie zeigen, dass übergreifende Konzepte sozialer Hierarchie und die tägliche Verwaltungspraxis nicht zwingend übereinstimmen müssen.

Mit diesen drei Beispielen - den ukrainischen Megasites, den Städten Mesopotamiens und der Indus-Kultur - verweisen G&W auf die Möglichkeit, frühe Stadtstaaten eher egalitär als hierarchisch zu denken. Die Städte Mesopotamiens werden teils gar als primitive Demokratien gedeutet (S. 329ff.). Allerdings behaupten G&W ausdrücklich nicht, dass frühe urbane Siedlungen grundsätzlich mit egalitären Gesellschaften verbunden seien.
 
Immer wieder verweisen G&W auf das Nebeneinander oder die Konkurrenz demokratischer und eher autoritärer Gesellschaftsorganisationen. In Mesopotamien treten die Stadtstaaten in Konkurrenz zur "Heldengesellschaft" in Uruk, in Mesoamerika beobachten sie ein Nebeneinander  verschiedener Gesellschaftsmodelle. Demokratische Stadtstaaten erweisen sich häufig als Gegenmodell zu Königtümern.

Ebenso wollen sie in Mesoamerika nicht nur von Königen regierte Stadtstaaten, sondern auch Republiken ausmachen, allen voran die schriftlose Pyramidenstadt Teotihuacán in Mexico, etwa 150-350 n.Chr. (S. 366ff.). Auch Tlaxcala zu Zeiten der Eroberung des Aztekenreiches durch Cortes machen G&W als indigene Republik aus. Ihr Kronzeuge ist Cervantes de Salazar (1514-1575) mit seiner Crónica de la Nueva España, in der zahlreiche Akteure, aber kein König greifbar wird, Auch Cortes selbst, mit dem Tlaxcala ein Bündnis gegen die Azteken eingeht, zieht eine Parallele zur Adelsrepublik Genua.

Auch die Maya-Stadtstaaten, so postulieren G&W, seien keine ausgeprägten Königtümer gewesen, sondern besessen, vielfach eine antiautoritäre Organisation, wie es in spanischen Konquistadoren auch schwieriger gemacht hätte, die Maya-Gebiete sicher zu unterwerfen. G&W ziehen hier gar eine Traditionslinie vom Widerstand gegen die Konquistadoren und den zahlreichen Aufständen bis zu den Zapatisten des späten 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, die für eine vom Lokalen und Regionalen gedachte basisdemokratische und multizentrische Gesellschaft kämpfen.

Strukturen der Herrschaft

G&W fragen, warum wir Beweise für demokratische Gesellschaftsstrukturen einfordern, hierarchische Strukturen aber als gegeben begreifen (S. 348). Mit Blick auf die deutsche Forschungsgeschichte kann man dies nur bestätigen. Allerdings spielen hierzulande spezifisch deutsche Traditionen eine wesentliche Rolle, etwa die Tatsache, dass bis heute unser Geschichtsbild sehr stark vom Historismus des 19. Jahrhunderts geprägt ist, der die treibende Kraft der Geschichte in den Mächtigen (Könige, Generäle und Politiker - hier auch keinesfalls zu gendern) sah und sich stark an der Ereignis- und Rechtsgeschichte orientierte. Deutlich wird dies beispielsweise in den Grundzügen früher Menschheitsgeschichte  von Hermann Müller-Karpe (Müller-Karpe 1998), der sich in seiner Einleitung vor allem auf die Klassiker des Historismus berufen hat. Da dabei auch die Einzigartigkeit jeder Epoche „vor Gott“ vertreten wurde, war Müller-Karpe gegenüber Ansätzen des Kulturvergleichs sehr skeptisch, was für ihn als Direktor der damaligen Kommission für allgemeine und vergleichende Archäologie ein methodisch-theoretisches Problem darstellte. Anders als bei G&W blieb sein Vergleich jeweils synchron, sehr antiquarisch und schematisch. 

Dieses historistische Geschichtsbild ist in Bezug auf die Gesellschaft besonders gravierend, die man sich immer nur top-down vorstellen konnte. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich auch hier, dass unsere Gesellschaftsrekonstruktionen zu hierarchischen Modellen tendieren und Elementen einer Souveränität oder Agency der “Normalbevölkerung! wenig Beachtung schenken.

Müssen denn etwa die späthallstattzeitlichen Gesellschaften des sog. Westhallstattkreises mit ihren "Fürstengräbern" und "Fürstensitzen" - für G&W wohl zu regional und unbedeutend, um sie auch nur zu erwähnen - als hierarchisch interpretiert werden? Hier ist zwar jüngst der Nachweis gelungen, dass die durch reiche Bestattungen fassbare Gruppe durch verwandtschaftliche Beziehungen generationenübergreifend verbunden war (Gretzinger et al. 2024). Was auf den ersten Blick das alte Modell dynastischer späthallstattzeitlicher/ frühlatènezeitlicher Fürsten zu bestätigen scheint, sagt tatsächlich aber immer noch wenig über Legitimationen und Machtverhältnisse aus, weshalb der Begriff der Dynastien weiterhin unangemessen ist. Noch immer wäre hier ein Modell einer segmentären Gesellschaft denkbar, in der konkurrierende Gruppen (Clans?) zunächst gleichrangig sind und in der Herrschaft auf Konsens und Aushandlung basiert. Die Inszenierung von Prunkgräbern ohne Waffenausstattung, aber mit Hinweisen auf Wagenfahrten und Symposien, deutet darauf hin, dass die soziale Praxis komplexer war als die traditionellen hierarchischen Gesellschaftsmodelle. Einiges erinnert doch an die Situation in Mesoamerika, wo einzelne Maya-Zentren unterschiedliche Strukturen und Konjunkturen bildeten, aber doch vielfältig untereinander vernetzt sind.

Heuneburg an der oberen Donau
(Foto: R. Schreg, 2016)


Selbst im Hoch- und Spätmittelalter, für das uns die schriftliche Überlieferung eine Adelsherrschaft und hierarchische Gesellschaft zeigt, waren in der sozialen Praxis gesellschaftliche Aushandlungsprozesse notwendig. Adelsfamilien mussten Strategien des sog. "Homemaking" verfolgen, um sich zu etablieren und vor allem, um nicht abzusteigen (Kühtreiber 2019; Froehlich 2023). Der Adel  musste regional immer demonstrativ Präsenz zeigen - durch Burgenbau, Kirchen- und Klosterstiftungen und schließlich auch Stadtgründungen oder zumindest Stadtresidenzen. Da der damalige Landesausbau und die Stadtentwicklung vielfältige sachliche Entscheidungen zu treffen oder doch die tägliche Wirtschaftspraxis einzubeziehen hatte, ist auch Adelsherrschaft nicht top-down zu betrachten. 
 
Burg Hohenhundersingen über dem Lautertal
als adliger Machtanspruch
(Foto R. Schreg, CC BY SA 3.0 via WikimediaCommons)


Der Begriff der Herrschaft erweist sich in der Archäologie nicht nur in den von G&W angeführten Beispielen als Black Box, die letztlich nichts erklärt, sondern nur dazu führt, dass  die Forschung gar nicht zu den entscheidenden Fragen vordringt: Welche Gruppen, welche Macht- und Einflusspositionen gab es in einer Gesellschaft? An welchem Punkt wurde Macht zu Herrschaft? Viel zu wenig werden Macht und Herrschaft differenziert und hinterfragt. Hier wäre es schon hilfreich, die alte Definition von Max Weber zu verinnerlichen, wonach Macht als die Chance begriffen wird innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, ungeachtet, worauf diese Chance beruht.

G&W treten deshalb nochmals einen Schritt zurück und differenzieren im Hinblick auf eine Definition von Staaten drei Komponenten, nämlich Gewaltkontrolle (Souveränität), Wissenskontrolle und individuelles Charisma. G&W bringen mehrere Beispiele für Herrschaften erster Ordnung, die nur auf einer dieser drei Grundformen basieren. Keine dieser Gesellschaften klassifizieren sie als egalitär. Überall existierte hier eine Elite oder gar ein König, aber es bleibe „völlig offen, inwieweit die Existenz dieser Eliten überhaupt die Grundfreiheiten einschränkte“ (S. 426).



Individuelles Charisma

Gewaltkontrolle

Wissenskontrolle


Chavin-Kultut


-

esoterisches Wissen/ Initiation

1000-200 v.Chr.

Peru

nur kultisches Zentrum

Olmeken

sportlicher Wettbewerb

-


1500-1000 v.Chr.

Guatemala, Honduras, Südmexiko

Nachez


Gotteskönigtum


18. Jh.

Kanada

Schilluk


König („Reth“)


Südsudan

19./frühes 20. Jh.

prädynastisches Ägypten

keine ritualisierten Wettkämpfe


(Ahnen)


Mesopotamien 

(göttliche Souveränität)


heroische Politik


Tab. 1 Gewaltkontrolle (Souveränität), Wissenskontrolle und individuelles Charisma als Elemente verschiedener Kulturen


An diese Beispiele schließen G&W das prädynastische Ägypten an, das sie jedoch in eine Langfristperspektive stellen. Ein Aspekt für sie ist dabei das Phänomen der Totenfolge, das offenbar häufig mit früher Staatenbildung einhergeht. Viel wesentlicher scheint nach G&W jedoch ein Wandel der Jenseitsvorstellungen gewesen zu sein. Die Vorstellung, die Toten müssten auch im Jenseits mit Speis und Trank versorgt werden, erhöhte den Druck auf die Landwirtschaft und schuf eine Situation, in der sich Familien für ihre Ahnen verschulden mussten. Das prädynastische Ägypten ist für G&W das weltweit erste bekannte Beispiel für Staatenbildung, das sie als verallgemeinerbaren Ausgangspunkt ansehen (S. 438). Das steht in einem gewissen Gegensatz zu den Ausführungen auf den folgenden Seiten, wo im Gegenteil die Unterschiede der frühen Staaten hervorgehoben werden. Grundsätzliche Übereinstimmungen gab es zwischen Mesopotamien und China aber dennoch, denn „ihre Führungen bedienten sich durchwegs aufsehenerregender Formen von Gewalt und stützen sich letztlich auf eine patriarchalische Gesellschaftsordnung“ (S. 441).

Abschließend thematisieren G&W die Einsichten aus der minoischen und mykenischen Kultur (S.464ff.). Gerade in deren Kontrastierung schließen sie auf eine von Frauen geprägte minoische Kultur und verweisen die bisherige Interpretation der minoischen Kultur in eine Sphäre archäologischer Vorurteile. Dabei wird gar ein Sexismus-Vorwurf laut, denn anders sei nicht zu erklären, dass die Datenlage nicht schon längst im Sinne einer zentralen Bedeutung, wenn nicht gar Herrschaft von Frauen interpretiert worden sei (S.468).

G&W wenden sich gegen den häufig impliziten Gedanken, Zivilisation setze urbanes Leben voraus, das seinerseits nicht ohne Staat denkbar sei. „Zivilisationen“ sehen sie negativ, denn der Mensch hätte hier seine drei Grundfreiheiten (S. 462) und häufig auch das Leben selbst verloren (S. 463). Sie schlagen vor, den Begriff wieder positiv zu besetzen und sich auf die egalitäre Bedeutung des “civis“ zu besinnen, mithin das Egalitäre in den Vordergrund zu stellen.

Gesellschaftswandel in Nordamerika

G&W „schließen den Kreis“, indem sie darauf abheben, dass das gängige evolutionäre, auf Fortschritt zielende Geschichtsbild mit der dominierenden Bedeutung der Wirtschaftsformen die Reaktion auf die indigene Kritik an dem frühneuzeitlichen Gesellschaftsmodell der expandierenden Europäer sei.

G&W kommen in diesem letzten Kapitel auf Nordamerika als Gegenbeispiel zu den gängigen, oft schon völlig unbewussten und unreflektierten Evolutionstheorien zurück. Sie schildern recht ausführlich die Gesellschaftsstrukturen in Nordamerika, insbesondere bei den Osage. Wichtig erscheinen hier die weiträumigen, stammes- und sprachenübergreifende Organisation in Clans (S. 487ff.), die deutlich machen, dass neben den uns geläufigen Gruppen von verwandten Familien auch imaginierte Verbindungen einen wesentlichen Einfluss auf eine Gesellschaft haben könnten. 
 
Sie zeigen die wechselnden Subsistenzsysteme, was in den Great Plains auch die Abkehr vom Ackerbau bedeuten konnte (vgl. S. 128). Vor allem aber führen Sie das Beispiel von Cahokia an, wo eine Entwicklung hin zu einer urbanen Zivilisation bewusst gestoppt worden sei. Cahokia blühte zwischen etwa 1000 und 1350 n.Chr., zeigt aber in seiner Spätphase Spuren der Gewalt und die Notwendigkeit einer Befestigung Nach ihrem Untergang blieb das Gebiet um die ehemalige Stadt unbesiedelt (S. 482ff.). Cahokia habe lange als eine Art Schock nachgewirkt und dazu beigetragen, dass etwa bei den Osage bewusst Strukturen entwickelt wurden, die "checks and balances" etablierten um die Willkürherrschaft Einzelner zu begrenzen. Die Kritik der Indigenen an der europäischen Zivilisation sei also nicht die unzivilisierter Wilder im "Naturzustand", sondern Folge einer politischen Geschichte mit einer Reflektion von Gesellschaftsorganisationen, wie wir sie in Europa sonst mit antiken Gesetzgebern wie Lykurg und Solon (S. 513), aber auch Philosophen wie Platon in Verbindung bringen.

Cahokia als untergegangene und tabuisierte Großstadt.
(Foto: R. Schreg)


Neue Geschichtsbilder ?

Relativ knapp - immer noch auf 35 Seiten (S. 525ff.) geben G&W im Schlusskapitel eine Zusammenfassung ihrer Argumentation, aber mehr noch eine Kritik unseres modernen Geschichtsverständnisses. G&W argumentieren, dass das Streben nach den Ursprüngen von Ungleichheit oft zu mythischen Erzählungen führt, die eine Art biblischen Sündenfalls darstellt, allerdings ohne Aussicht auf Erlösung. 
Die Unterscheidung zwischen traditionellen Gesellschaften mit einem zyklischen Zeitverständnis, wonach alle wesentlichen Innovationen in eine mythische Vorzeit verlagert werden und historischen Gesellschaften mit einem linearen Zeitverständnis von Schöpfung bis Weltende, weißen sie ebenso zurück wie das dahinter stehende Geschichtsbild. Diese Vorstellungen wurden nicht zuletzt von Mircea Eliade (1907-1986) geprägt, der die lineare Zeit mit antisemitischen Untertönen auf das Alte Testament und das Judentum zurückführte und für alle späteren Katastrophen verantwortlich machte (so G&W S. 529f.).
 
Vorstellungen, wonach Geschichte von Revolution zu Revolution fortschreite - wobei G&W nicht auf das marxistische Geschichtsbild verweisen, für das dieses Bild doch in besonderem Maß charakteristisch ist -, räume der technischen Entwicklung eine zu große Bedeutung ein. Sie verweisen darauf, dass sich die neolithische "Revolution" als wesentlich komplexer und nicht zwangsläufig als moderner erweise. Schließlich zeige sich, dass auch mit steinzeitlicher Technologie komplexe urbane Gesellschaften gar mit repräsentativen Bauwerken möglich waren.  
 
Frühe Gesellschaften werden aus westlich-anthropologischer Sicht geschichtslos, da ihnen kaum eine Agency zugebilligt wurde und wird. Bewusstes politisches Handeln ist aus westlicher Sicht eine Folge der Aufklärung und damit den Europäern vorbehalten. G&W halten dem entgegen, dass die Aufklärung indes die Vorstellung von Freiheit von nordamerikanischen Staatsmännern übernommen hätte und in deren Fußstapfen getreten sei. Die Folgen in Europa beurteilen G&W allerdings als katastrophal, da die Grundfreiheiten - Recht auf Freizügigkeit, Recht auf Ungehorsam und das Recht auf soziale Selbstorganisation -  "bis zu dem Punkt verschwunden [sind], da eine Mehrheit der heute lebenden Menschen kaum mehr verstehen kann, wie es wäre, in einer auf ihnen beruhenden sozialen Ordnung zu leben" (S. 536).
Wie es so weit kommen konnte, ist demnach eine interessante Frage, zu deren Beantwortung G&W (ausdrücklich) nur Spekulationen anbieten können. Eine richtet sich auf die Rolle des Krieges (für den nun aber S. 538 doch Anfänge postuliert werden) und das Prinzip der sozialen Ersetzbarkeit. Ein anderer Hintergrund könnte in der Tradition de römischen Rechts liegen, das einen anderen Freiheitsbegriff beinhaltet, der stark auf der Abgrenzung gegenüber der Sklaverei und auf das Eigentum aufbaut - und auch das Verständnis der Familie prägt. So ist auch das Patriarchat  ein Faktor im Verlust der Freiheiten.
 
G&W fordern dazu auf, den gewohnten Gegensatz von „Tradition vs. Moderne“ zu überdenken. Frühere Gesellschaften waren nicht statisch.  Die Menschheit sei historisch in der Lage gewesen, verschiedene Lebensformen zu verwirklichen und immer wieder auch zu wechseln. Die Vorstellung von einer unvermeidlichen Entwicklung von Gleichheit zu Ungleichheit ist wahrscheinlich unzutreffend. Viele frühe urbane Gesellschaften waren zudem durch Kooperation und gemeinschaftliche Entscheidungsfindung gekennzeichnet  und nicht notwendigerweise durch strenge Herrschaftsstrukturen. Innovationen der Vergangenheit darf man sich nicht als individuelle Erfindungen vorstellen, wie wir das aus der Industrialisierung kennen, es handelt sich vielmehr um Alltagsentwicklungen an denen nicht zuletzt das Erfahrungswissen von Frauen einen hohen Anteil hatte (S. 532).
 
Wir benötigen ein neues Geschichtsverständnis, das dieser Vielzahl von Möglichkeiten gerecht wird und das auch unser heutiges Denken über soziale Gerechtigkeit und Struktur prägen sollte. An die Stelle der Frage nach den Anfängen dieser oder jener sozialen Praxis oder Technik stellen G&W interessantere Fragen, für die sie exemplarisch formulieren:
"Gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen dem, was man üblicherweise "Gleichberechtigung der Geschlechter" nennt (und was vielleicht besser einfach als "Freiheit der Frauen" bezeichnet werden sollte) und dem Grad der Innovation in einer gegebenen Gesellschaft?" (S. 533)
Für die Archäologie bedeutet dies, dass soziale Arrangements und Herrschaftsstrukturen nicht nur vor dem Hintergrund von Technologiefortschritten und Hierarchien zu betrachten sind, sondern die Spielräume der sozialen Kreativität reflektiert werden sollten, die in der Vergangenheit existierten. G&W postulieren, dass viele Aspekte von sozialen Freiheiten und dominierenden Strukturen - insbesondere in Bezug auf Geschlechterverhältnisse und wirtschaftliche Organisationen - historisch ein Produkt von Verhandlungen, Ritualen und demokratischen Experimenten waren. Tatsächlich zeichnet sich schon seit einiger Zeit ab, dass das Interesse der Archäologie sich zunehmend von (meist immer noch hierarchisch gedachten) Sozialstrukturen hin in Richtung sozialer Praktiken verschiebt.

Echo und Kritik

Das Buch wurde schon nach dem Erscheinen in zahlreichen Feuilletons und Blogs zumeist begeistert besprochen. Für ein archäologisches Buch haben die "Anfänge" ungewöhnlich viel Medienecho gefunden. Die Bundeszentrale für Politische Bildung brachte eine - sehr schnell vergriffene - Sonderausgabe heraus, obwohl ihre historische Perspektive meist nicht über das 19. Jahrhundert zurück reicht. Allein das zeigt schon, dass den Anfängen eine ungewöhnliche gegenwartsbezogene Relevanz haben.  Die Ausgabe des Verlags C.H.Beck erschien 2024 bereits in der 4. Auflage.
Eine der Rezensionen (Çilingiroğlu 2022, 614) charakterisiert das Buch von G&W "als ein Buch voller kraftvoller Fragen und faszinierender Spekulationen". Die Erkenntnis, "dass die Vergangenheit unsere Zukunft verändern kann", sieht sie als Beleg, dass "(Vor-)Geschichte auch heute noch so relevant für die Öffentlichkeit ist" .Die Erkenntnis der eigenen Position in der Geschichte und das historische Bewusstsein für die unendlichen Möglichkeiten gesellschaftlichen Lebens seien Grund zur Hoffnung und Ansporn zu "care and dare", also gesellschaftlichem Engagement. 

Im Lauf der Zeit wurden die Kritiken allerdings immer skeptischer - wohl in Abhängigkeit von der Zeit, die es benötigt, die Vielzahl der Gedanken und Beispiele von G&W auch nur annähernd zu durchdringen. Dementsprechend brauchten wissenschaftliche Rezensionen länger und sind überwiegend auch skeptischer. Zunächst wurde die 2021 erschienene englische Originalausgabe rezipiert. Einige der Rezensionen der deutschen Ausgabe loben die gute Übersetzung. Das kann ich nicht ganz nachvollziehen, denn mehrfach bin ich über merkwürdige Formulierungen gestolpert, so dass ich mir die englische Ausgabe daneben gelegt habe. In der deutschen Übersetzung steht S. 248 beispielsweise "durchsetzt mit einzelnen Weilern höher gelegenen Festlands", was im englischen Original einfach „interspersed with raised areas of dry land“ (engl. Paperback S. 223) heißt. Von Siedlungen oder gar Weilern ist hier nicht die Rede. 

Relativ wenige der eher wissenschaftlichen Rezensionen haben dabei allerdings einen archäologischen Hintergrund, erschienen in den Zeitschriften Antiquity (Kiddey 2022), American Antiquity (Birch 2022), Cliodynamics (Feinman 2022; Smith 2022), Public Archaeology (Oldham 2022), American Journal of Archaeology (Morris 2022) und Australian Archaeology (Flexner 2022).

Jan Morris (2022) konzentriert seine Rezension auf die Frage, ob G&W’s Angriff gegen evolutionäre Ideen gerechtfertigt ist. Als einer der wenigen Rezensenten setzt er sich genauer mit den archäologischen Befunden auseinander. Er geht dazu drei Prüfkriterien durch. 1.) Korrektheit, 2.) Vollständigkeit und Repräsentativität der ausgewählten Beispiele und 3.) die Stichhaltigkeit der Argumente. Während er für die beiden ersten Punkte wenig Kritikansätze sieht, hat er Zweifel an der Stichhaltigkeit der Interpretation einzelner Beispiele. Morris widerspricht der anti-evolutionistischen Interpretation. “Argument with the authors is not over the facts, which seem increasingly clear, but over what the facts mean for evolutionism” (Morris 2022, E069). Die Darstellung der „neolithischen Revolution“ durch G&W sieht Morris in Übereinstimmung mit dem aktuellen Stand der Forschung, der bereits seit den 2000er Jahren von der Vorstellung eines raschen und unumkehrbaren determinierten Wandels abgerückt sei und die Langfristigkeit und Vielfalt der Entwicklung betont. Dabei wurden neue Konzepte evolutionärer Entwicklung formuliert, die G&W jedoch übergehen. Morris verweist hier exemplarisch auf die Nischen-Theorie. Morris würdigt zwar die neue Perspektive, die G&W bieten, sieht deren Argumentation aber eher rhetorisch als methodisch (Morris 2022, E074).
 
Methodische Kritik äußern auch Garry Feinman (2022) und Michael E. Smith (2022). Letzterer kommt zu einem vernichtenden Urteil, indem er einen unangemessenen Gebrauch von Analogien, fehlende Zitate relevanter Arbeiten, leere, also wohl irrelevante Zitate und Neuigkeitsansprüche für längst akzeptierte Erkenntnisse konstatiert ("inappropriate use of argument by analogy; failure to cite relevant work; empty citations; and phrasing widely accepted conclusions as if they were radical new ideas"). Smith kritisiert auch, dass G&W den Begriff der Stadt nicht definieren und dann ganz selbstverständlich die Trypillian megasites als solche bezeichnen (S. 303ff.). Hauptkritikpunkt sind jedoch die zufälligen Analogien, die G&W jeweils aus dem Hut zaubern, ohne dass begründet wird, dass sie für den archäologischen Befund relevant und stichhaltig seien. Auch Feinman fehlt eine Diskussion alternativer Interpretationen und Argumentationen. Er stimmt ausdrücklich zu, dass der Übergang von der Nahrungssuche zum Ackerbau weder einheitlich noch linear von Region zu Region verlief, dass Landwirtschaft nicht zwangsläufig zu Privateigentum führt, dass Gemeinwesen und soziale Institutionen nicht einheitlich durch Zwang aufgebaut wurden und dass es nicht mehr sinnvoll ist, den Verlauf der Weltgeschichte in den Westen und den Rest aufzuteilen. Seine Kritik setzt letztlich an den grundlegenden Geschichts- und  Menschenbildern an. G&W definieren ihr Menschenbild durch Freiheit, betonen aber, "wie man den Zeiger zwischen Freiheit und Determinismus setzt, ist letztlich eine Geschmacksfrage" (S. 230). Feinman erkennt keinen strengen linearen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit, betont aber, dass das Wachstum menschlicher Institutionen und Netzwerke entscheidend für das Verständnis von Kooperation ist. Feinman kritisiert, dass G&W viele interdisziplinäre Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Gruppengröße und Organisation ignorieren, obwohl sie durchaus damit argumentieren, dass große Gruppen nicht zwingend mit dem Verlust an persönlicher Freiheit einhergehen. Erforderlich ist nach Feinman ein Verständnis menschlichen Sozialverhaltens, wie sie Zugehörigkeiten, Institutionen, Netzwerke und politischen Strukturen. gebildet haben. G&W gingen darauf zu wenig ein.
 
Die deutsche Archäologie ist bisher erwartbar weitgehend sang- und klanglos über G&W hinweggegangen, auch über die deutsche Übersetzung. Eine der ersten deutschen Rezensionen hat Mathias Jung immerhin in der Germania vorgelegt (Jung 2022/23) - von einem Standpunkt der theoretischen Archäologie aus. Er schreibt: "Generell liegt die Stärke des Buches in der Kritik. Graeber und Wengrow kämmen die dominierenden Narrative und diskursbestimmenden Theorien angemessen respektlos gegen den Strich, sie legen dort den Finger in die Wunde, wo an die Stelle von Argumenten und Begründungszusammenhängen schlicht Deutungsroutinen treten."

Eine weitere Rezension eines deutschen Archäologen liegt von Sebastian Brather vor, erschienen allerdings in der Historischen Zeitschrift (Brather 2022). Er kommt zu einem etwas distanzierten Urteil. Das Buch hält er zwar für “anregend”, aber es biete “keine gänzlich neue Geschichte der Menschheit“, sondern stütze “sich auf viele bekannte und neue Fakten, die er oft anders als bislang üblich zu deuten vorgibt”. Brather stört sich daran, dass G&W’s Kritik die bisherige Diskussion holzschnittartig verkürze und pauschal bleibe, wo viele der genannten kritischen Punkte längst diskutiert würden.” Daran, dass die Geschichte der Menschheit nicht allein durch Hierarchie und Ungleichheit geprägt war, bestand allerdings auch bisher schon kein vernünftiger Zweifel.” 
 
Die Rezension von Andre Gingrich ist zwar in einer archäologischen Zeitschrift publiziert - den Archaeologia Austriaca - repräsentiert aber eine sozialwissenschaftliche Sicht (Gingrich 2002). Er führt drei methodische Gesichtspunkte an, dass nämlich G&W ihren theoretischen Ausgangspunkt - die anarchistische Anthropologie - nicht genügend transparent gemacht hätten. Zu oft würden sie ihre empirischen Beobachtungen ihrer theoretischen Perspektive unterordnen und beispielsweise andere Gesellschaftsmodelle ignorieren. Das käme einer Manipulation zugunsten der eigenen theoretischen Ansichten nahe (“The authors too often bend their empirical evidence according to their theoretical orientations. When, for instance, they ignore gerontocratic or Great Men forms of political influence, this comes close to manipulating the overall ethnographic record in such a way that it fits their theoretical assumptions”). Gingrich kritisiert weiter, dass G&W auch dort zu einem “Imaginative in-filling” greifen, wo andere methodische Ansätze möglich wären. In der zeitlichen Dimension der Betrachtung überwiegen Beispiele aus der prähistorische Archäologie, bei der es keine unabhängigen Kontrollmöglichkeiten gibt. Aus Sicht der Archäologie nehmen die ethnographischen Beispiele sehr breiten Raum ein. Sie stammen alle aus der  Neuzeit und dienen vielfach als Analogie, um die Kenntnislücken bei älteren Gesellschaften zu stopfen. Eine Kontrolle, wie Gingrich sie einfordert, kann letztlich nur eine Ethnoarchäologie oder eine historische Archäologie leisten, die untersucht, wie sich die sozialen Verhältnisse auch materiell niederschlagen (können), um eine Anwendung auf die rein archäologischen  Fälle argumentativ besser abzusichern. Tatsächlich ist dies bei G&W eine methodische Lücke, weshalb die ethnographischen und die archäologischen Kapitel letztlich nur assoziativ miteinander verknüpft sind. Gingrich problematisiert die Zusammenarbeit von Archäologie und Ethnologie, die nur am “broad sweep of history” ansetzt, ohne auch gemeinsame Detailstudien vorzunehmen.

Blickt man auf die Liste der Rezensionen – jedenfalls soweit ich sie gefunden habe – fällt auf, dass sie - von Gary Feinman und Michael E. Smith abgesehen - zumeist eben nicht von den tatsächlich fachkompetenten Archäolog*innen stammen, die an den von G&W angeführten Beispielen forschen, sondern von Kollegen, die nur indirekt betroffen sind. Sebastian Brather ist Spezialist für das frühe Mittelalter. Jan Morris ist klassischer Archäologe mit einem Faible für die griechische Frühzeit. Rachael Kiddey bezeichnet sich als Contemporary archaeologist. Ich muss mich hier selbst einreihen und kann nur hoffen, für mein Urteil die wesentlichen Eckpunkte richtig erfasst zu haben - aus der Diskussion der einzelnen Beispiele musste ich mich weitgehend heraushalten.
 
Der wiederkehrende Vorwurf, alter Wein in neuen Schläuchen erscheint mir nicht angebracht. Den Neuigkeitswert von G&W sehe ich im Gesamtbild, nicht in den Einzelstudien, bei denen die Interpretationen für die Spezialisten tatsächlich oft nicht neu sind, aber darüber hinaus eben doch noch wenig rezipiert sind. Als gewöhnlicher Leser sieht man sich doch von der Deutung vieler Beispiele überrascht, auch wenn mit einem Blick in das sehr umfangreiche Literaturverzeichnis deutlich wird, dass sie letztendlich alle auf dem aktuellen Forschungsstand aufbauen. Man hat vielfach eben doch noch die alten Erzählungen im Kopf, die nicht zuletzt auf Childe (1936) oder Wittfogel (1956) zurückgreifen. Und selbst das Bewusstsein, dass dies einen alten Stand der Forschung repräsentiert, bedeutet nicht, dass die Konsequenzen daraus nicht innovativ sein könnten.
 

Wissenschaft, Weltbilder und Politik

Die Kritik an G&W setzt generell nicht an den einzelnen Beispielen und deren Fakten an (wenn auch Morris und Feinman zu gegensätzlichen Einschätzungen kommen) und resultiert weniger aus einer Perspektive der Wissenschaft, sondern aus Weltbildern und politischen Interessen. In den Rezensionen geht es vielfach um den bereits angesprochenen Freiheitsbegriff (z.B. Kiddey 2022). Hier scheint das alte Problem der Geschichtsverständnisses auf, wer oder was denn die entscheidenden Triebkräfte der Geschichte darstellten: Der Mensch selbst mit seiner Handlungsfreiheit - der G&W einen hohen Stellenwert einräumen - oder eher die strukturellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft oder der Umwelt - letzteres ist bei G&W kaum reflektiert. 
 
Linke Anarchisten werfen Graeber indirekt vor, ihre Sache zu verraten, weil er die Grundüberzeugung von Anarchisten und Marxisten über Bord werfe, die Menschheit sei einst egalitär gewesen - und daher bestehe Hoffnung, sie könne es auch wieder werden (Lindisfarne/ Neale 2021). Piero Vereni (2024) kritisiert das Werk wegen seiner anarchistischen und utopischen Perspektive und verlangt, dass Wissenschaft und Politik wieder getrennt werden müssten. Ihn stört, dass Freiheit als Faktor der Menschheitsentwicklung höher eingeschätzt würde als Gleichheit. Eine andere Einschätzung hat hier L. Harding, der sich fast schon verwundert zeigt, wie wenig Graebers politische Einstellungen sich in dem Buch widerspiegeln (Harding 2022).
 
Die Auseinandersetzung mit G&W macht deutlich, wie wichtig es ist, sich Rechenschaft über sein Geschichtsbild abzulegen. Zumeist ist dieses in der deutschen Forschungstradition sehr wenig reflektiert und steht hier oft immer noch unter dem Einfluss des Historismus aus dem 19. Jahrhundert.  
 
Da diese Menschen- und Geschichtsbilder auch in der aktuellen Politik von Bedeutung sind, finden sich kulturwissenschaftliche Interpretationen immer in einem Spannungsfeld mit irgendwelchen politischen Positionen. An dieser Stelle lässt sich Wissenschaft nicht entpolitisieren.

Daher steht auch zu erwarten, dass G&W auf dem Index von POTUS Trump & his Admins landet, denn das anti-evolutionäre, anarchistische Bild, das alle Kulturen gleichwertig achtet, passt nicht in das MAGA-Weltbild. Im Geschichtsbild von G&W sind diversity, equity und inclusion wichtige Aspekte. Sie räumen den Indigenen einen hohen Stellenwert ein und beziehen die historischen Erfahrungen auf die Gegenwart. Das ist genau jene Wissenschaft, die bei POTUS Trump nicht mehr gewünscht ist (Archaeologik 4.2.2025). 


Graeber hatte in der Vergangenheit D. Trump heftig kritisiert.


 


Das Buch ist daher ein heißer Kandidat für etwaige Buchverbrennungen, die zwar noch nicht real sind, aber auch für niemanden mehr überraschend sein sollten. Man sollte dabei nicht auf Meinungsfreiheit und Toleranz hoffen, wenn bereits Journalisten angegangen werden, die den Blödsinn vom Golf von Amerika nicht mitmachen. Auf Meinungsfreiheit pfeifen die neuen TrumpAdmins, auch wenn sie von Europa mehr davon einfordern. Meinungsfreiheit bedeutet hier aber nur die Freiheit, den eigenen Gedankensalat ohne Kritik zu verbreiten.

Vor einem irrationalen Weltbild ist alle Wissenschaft politisch.
Es scheint mir aber eine andere Konsequenz zu ziehen: Wenn die Meinungen über grundlegende Konzepte so weit auseinander gehen und als Geschmackssache oder als Frage der politischen oder auch religiösen Präferenzen gesehen werden, so muss die Wissenschaft um ihrer Selbst willen dies als grundlegende Fragestellung begreifen und thematisieren. Was sind denn nun die menschlichen Handlungsspielräume und Entscheidungsfreiheiten? G&W postulieren, dass wir mit Fragen nach der Entstehung von Unfreiheit und Hierarchien die falschen Fragen gestellt haben.
 
Aus archäologischer Sicht ist das zunächst vielleicht ein Problem der Kulturanthropologie und der Soziologie. Tatsächlich gibt es dort ja auch lange Forschungstraditionen, die sich dem Menschen als soziales Wesen nähern, indem sie sich mit Themen wie Agency, Willensfreiheit, Kommunikation, egalitären und autoritären Systemen sowie sozialen Rollen oder auch der Nachhaltigkeit und des Umweltverhaltens befassen. Die Grenzen zwischen evidenzbasierten Theorien und philosophischen Betrachtungen sind hier häufig fließend und nur wenige soziologische Überlegungen sind sich der historischen Dimension bewusst. Wenn man auch evolutionistische Paradigmen ablehnen muss, so bedeutet das nicht, dass es keine historischen Veränderungen gegeben hat. Unsere Gegenwart ist geworden und hat sich entwickelt. Die Frage, wie Privateigentum entstanden ist, ist grundsätzlich also berechtigt, muss aber zum einen berücksichtigen, dass auch bei Primaten durchaus Konzepte von Eigentum vorhanden sind (Brosnan 2011). Bezogen auf den Menschen geht es also nicht um die Entstehung des Privateigentums, die Anlage dazu bringt der Mensch in seiner Evolution bereits mit. Es geht viel mehr darum, welchem Bedeutungswandel Eigentum und Privatbesitz in verschiedenen historischen Perioden ausgesetzt waren. Das gilt beispielsweise auch für das mitteleuropäische Mittelalter, wo wir im Früh- und Hochmittelalter eine gewandelte Bedeutung von Grundbesitz und Eigentum an Grund und Boden beobachten lässt. 
Ähnlich muss auch die Frage nach den Anfängen der Stadt differenziert gestellt werden. Diese war zwar nicht von Anfang an da, aber sie ist eben auch nicht das Endziel menschlicher Evolution. Statt allgemein nach den Anfängen der Stadt als menschlicher Lebensform und einer "urban revolution" zu fragen, müssen wir reflektieren, unter welchen Umständen die Menschen größere und multifunktionale Gemeinschaftssiedlungen etabliert haben. Generell müssen wir uns bewusst werden, dass evolutionistische Modelle der kulturellen Komplexität in aller Regeln nicht gerecht werden. Die Diskussion, ob Trypillia-Megasites als Städte zu betrachten sind, ist letztlich müßig. Anstatt solch formelle Fragen zu stellen, die sich letztlich um Definitionen drehen, müssten wir analysieren, wie das Zusammenleben funktioniert hat und welche sozialen Prozesse zur Ausbildung dieser Megasites geführt haben. Vorgefertigte Klassifikationen verstellen eher den Blick auf die Zusammenhänge, als dass sie uns voranbringen. 
Dass „Herrschaft“ in der Archäologie eine nichts sagende Blackbox darstellt, ist eine der Lehren, die sich insbesondere die deutsche Forschung zu Herzen nehmen sollte. Immer wieder fallen wir zurück in die Vorstellung hierarchischer Gesellschaftsstrukturen, ohne dass wir die Komplexität sozialer Praxis berücksichtigen und etwa daran denken, dass Gesellschaften auch segmentär gegliedert sein können. Diese Warnung sollte auch die Archäologie des Mittelalters sehen, denn auch bei dem Vorliegen schriftlicher Quellen zur mittelalterlichen Adelsgesellschaft muss berücksichtigt werden, dass dies auf zeitgenössische Quellen zurückgeht, die ihrerseits nicht alle sozialen Akteure abbildet und vieles idealisiert.
 
Welche Rolle spielen denn Traditionen und ethnische Identitäten? Welche Rolle spielten Migrationen? G&W gehen bei den Beispielen aus Meso- und Nordamerika beiläufig darauf ein, verweisen auf die Bedeutung der Migrationen in Nordamerika zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnungen und reklamieren, dass es dort Nationen im modernen Sinne bereits vor der europäischen Aufklärung gegeben habe. Auch hier fehlt die methodische Brücke, bei der heute zwingend die Archäogenetik beteiligt sein muss. G&W übergehen diese Thematik, die aktuell freilich nicht einfach ist, weil mit der Dominanz der biologisch-genetischen Perspektive ein längst überholt geglaubter biologischer Determinismus wieder aufersteht und anstelle der alten Rassenkategorien nun genetische Gruppen und Abstammungslinien treten. Dennoch ist ein neues Bild der Menschheitsgeschichte ohne angemessenen Einbezug der Archäogenetik nicht mehr aktuell.
 
Es fehlt auch eine umwelthistorische Perspektive. Welche Auswirkungen hatte denn das Klima und der Umwelt auf die Entwicklung? Hier wird bei G&W nur beiläufig der Meeresspiegelanstieg am Ende der Eiszeit und der Verlust der Siedlungslandschaften der Neolithiker angesprochen. Ist das Ende der LBK als failed civilisation zu verstehen oder haben wir es mit Auswirkungen eines Klimawandels- und Umweltveränderung zu tun? Wie steht es um die Nachhaltigkeit, wenn wir auch den frühen Menschen nicht als wilden Naturmenschen verstehen dürfen? 
 
Das sind Fragen, die ebenso detailreiche Studien aus jüngerer Zeit benötigen, wie eine Langfrist-Perspektive, die auch über den Homo-Sapiens zurück bis ins Mittel- und Altpaläolithikum reichen müsste.
 
G&W zeigen, wie wertvoll und notwendig der kulturanthropologisch–ethnologische Blick ist. Es zeigt sich allerdings auch, dass diese interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht nur auf der Ebene der Disziplinen gedacht werden darf, sondern dass es auch einer klaren Methodik bedarf, wie archäologische Daten und ethnographische Beobachtungen stichhaltig zusammen geführt werden können. Ich erinnere an die Kritik von Jan Morris, der die Argumentation von G&W als eher rhetorisch, denn methodisch eingestuft hat.
 
Diese Defizite und Lücken darf man fairerweise G&W nicht vorwerfen - einerseits ist das ein Forschungsprogramm, das erwartbar über die Möglichkeiten Einzelner hinaus geht, andererseits sind G&W mit ihrem Vorhaben gar nicht fertig geworden, denn sie hatten geplant, mindestens drei Fortsetzungen zu schreiben (S. 7).
 
Es zeigt sich, dass der kulturanthropologische Blick nach dem Wesen menschlicher Gesellschaft nicht ohne eine historische Perspektive auskommt. Die historische Dimension der cultural anthropology ist allerdings problematisch, vor allem wenn wir im engeren Sinne und in deutscher Perspektive an die Ethnologie denken, die sich mit lebenden bzw. rezenten Gesellschaften befasst, die sie beobachten oder auch befragen kann. Die historische Perspektive der cultural anthropology blieb daher oft schematisch und theoretisch, so etwa, wenn Marshall Sahlins - bei dem David Graeber promoviert hatte - versuchte, Stone Age Economics (Sahlins 1972) zu charakterisieren. Der Einbezug archäologischer Quellen ist unerlässlich und in den USA wird Archäologie konsequenterweise auch als Teil der Cultural Anthropology und nicht wie in Deutschland als Teil der Geschichtswissenschaften verstanden. Das löst aber weder das methodische Problem wie archäologische und ethnographische Quellen, noch wie ethnographische und historische Quellen methodisch sicher aufeinander bezogen werden können. Erschwerend kommt hinzu, dass die verschiedenen Disziplinen verschiedene Menschen- und Geschichtsbilder präferieren. In einem bösen, aber wohl nicht ganz unbegründetem Seitenhieb werfen G&W den Historikern vor, ob des deterministischen Fortschrittsgedankens die Geschichte aus den Augen verloren zu haben. Nur wenige Forscher hätten hier Ergebnisse vorzuweisen, deren Konsequenzen sie jedoch weder den Fachkollegen noch sonst jemandem erklären konnten (S. 472). Sind die Kulturanthropologen zu wenig historisch, so gilt das auch für die Historiker selbst. 
 
In der prähistorischen Archäologie gibt es seit langem Stimmen, die eine Abkehr von den geschichtswissenschaftlichen Traditionen des Fachs hin zur Kulturanthropologie bzw. zu den historischen Kulturwissenschaften fordern (v.a. Eggert 2025). Letztlich muss die Archäologie (und hier meine ich die prähistorische und die historische Archäologie gleichermaßen) beides sein. Die Kombination von Themen und Fragen sozialer Organisation und Praxis im weitesten Sinne mit der Dimension der Zeit sind das, was die Archäologie ausmacht. So geht es letztlich einerseits um Strukturen und andererseits um Prozesse, einmal um Verallgemeinerung und das andere Mal um die punktuell und kurzfristige historische Detailanalyse.

Fazit

Die Wissenschaft wird in nächsten Jahren mit Sicherheit einige Beispiele und Schlussfolgerungen infrage stellen und konzeptionell sicherlich auch eine Verknüpfung mit umwelthistorischen Narrativen vornehmen. Die Kernaussage wird dabei aber unberührt bleiben: menschliche Gesellschaften haben eine große Bandbreite an Organisations- und Wirtschaftsformen hervorgebracht und wir sind heute nicht das zwangsläufige, hochstehende Ergebnis einer sozialen Evolution, sondern historisch so geworden, wie wir sind. Nach G & W ist dies Entwicklung geprägt von einem Neben- und Gegeneinander eher egalitärer und eher hierarchischer und autokratischer Gesellschaften, die sich immer wieder einander ablösten. 

Die Kritik, dass die Interpretationen von G&W empirisch und tendenziös und somit letztlich ebenfalls unwissenschaftlich seien, trifft ein generelles Defizit der Archäologien - was letztlich noch bedenklicher ist. Die Methoden der Interpretation sind generell viel zu wenig reflektiert und diskutiert.
Das gilt für die Verknüpfung von archäologischen Quellen und schriftlichen Quellen in den historischen Archäologien ebenso, wie für die Verknüpfung archäologischer Quellen mit ethnographischen Analogien. Ethnoarchäologische oder historisch-archäologische Fallstudien, die materielle Evidenz mit der sozialen Existenz zusammenführen, kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu - und doch wird Ethnoarchäologie an keiner deutschen Universität gelehrt und die Curricula sehen keine Lehrveranstaltungen in der Ethnoarchäologie oder Kulturanthropologie vor. Die häufige Reduktion der Ethnoarchäologie auf eine Analogiequelle für die Deutung von Artefakten, ist jedenfalls nicht ausreichend.
 
Anthropologie und Archäologie müssen dazu besser und systematischer aufeinander bezogen werden.  Ethnographische Analogien bieten bestenfalls Denkanstöße für Interpretationen der Sozialstrukturen vergangener Gesellschaften. Ich erinnere an die nach wie vor gegebene Möglichkeit, die Gesellschaft des Westhallstattkreises ohne hierarchisch dominierende Dynastien zu verstehen. Daran ändern auch aktuelle archäogenetische Ergebnisse nichts. Für die Bronzezeit Südbayerns, für die wir heute dank moderner Analysen an Grabfunden langfristige Migrations- und Heiratsmuster über große Distanzen erkennen können (Stockhammer 2025), mögen weiträumige Netzwerke, vergleichbar vielleicht den Clans in Nordamerika, eine Rolle spielen.  Diese Aussagen müssen aber Thesen bleiben und können schwerlich als gegeben akzeptiert werden. Das ist auch das Problem bei vielen der Interpretationen archäologischer Befunde von G&W: Sie sind Hypothesen.
Soll man also lieber gar keine Analogien nutzen? Die frühere deutsche Forschung hat eindeutig, wenn auch inkonsequent, genau dafür plädiert, keine Analogien zu nutzen. Bisweilen wurde dies damit begründet, dass man nach den Erfahrungen der NS-Zeit lieber keine politischen Aussagen treffen wolle. Deshalb blieb man aber im Antiquarischen und langweilig-Deskriptiven stecken. 

Es gab deshalb schon lange keine wissenschaftlich fundierte Universalgeschichte mehr. Die meisten anderen Universalgeschichten der letzten Jahre sind eher als Aktivisten-, Schriftsteller- oder Journalistenprojekte zu verstehen (z.B. Harari 2019, Vietta 2021). Die Autoren sind zwar vielfach Wissenschaftler*innen, aber meist fachfremd. Diese Bücher sind zwar wertvoll für die Wissenschaftsvermittlung, können aber in ihren Synthesen und Narrativen keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. G&W tun dies.
 
Die positive Resonanz des Buches zeigt, dass es weit über die archäologischen und ethnologischen Fachkreise hinaus wahrgenommen wird und die Öffentlichkeit an weitergehenden Interpretationen der Vergangenheit interessiert ist - und letztlich doch nicht nur die Funde zählen. 
Damit ist das Buch zwar ein Bestseller, das enorme Aufmerksamkeit in Intellektuellenkreisen erhält, eine weitere Wirkung der tatsächlich vorhandenen Bedeutung dieser neuen Universalgeschichte wird aber wahrscheinlich ausbleiben, da die Darstellung für den normalen, prinzipiell auch interessierten Laser zu dick und zu unattraktiv ist. Es ist extrem zu bedauern, dass die bisherigen Ausgaben egal ob auf Englisch oder Deutsch fast ohne Abbildungen auskommen. Es werden zahllose archäologische Funde und Fundstellen besprochen, die der normale Leser mit Sicherheit nicht kennt. Für viele der angesprochenen Beispiele wären Pläne oder Ansichten wünschenswert gewesen. Die sieben Karten, die das Buch enthält, sind bei weitem nicht ausreichend. Es wäre zu wünschen, dass David Wengrow - am besten mit Unterstützung aus dem Wissenschaftsjournalismus - eine populäre, bebilderte Kurzfassung publizieren könnte, bestenfalls auch hier ohne teure Verlagsinteressen.
 
Das mediale Echo verweist von wenigen Ausnahmen abgesehen auf den hohen Innovationswert der Arbeit. Vielfach werden Gegenwartsbezüge hergestellt und dem Buch eine hohe Relevanz für unsere modernen Gesellschaften zugebilligt. Es fasziniert offenbar der umfassende Blick auf die Big History, der nicht nur deskriptiv die Entwicklung beschreibt, sondern auch generelle Lehren für die Moderne anbietet. 
 
Als Lehren werden registriert:

Diese Einschätzungen sind inzwischen über 3 Jahre alt. Vielleicht würden heute die Lehren und Schlagzeilen auf das dauernde Nebeneinander demokratischer und autoritärer Sozialordnungen abheben?!

Literaturhinweise

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