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Sonntag, 2. Dezember 2018

Römer sind hipper als Napoleon

... meint die Denkmalpflege in Mainz. So ähnlich jedenfalls:


"Ein Fund aus dem frühen 19. Jahrhundert werde anders behandelt als Funde aus der Römerzeit" meint Kathrin Nessel, Abteilungsleiterin für Denkmalpflege im Bauamt in Mainz. Ende Oktober ist bei Bauarbeiten ein Massengrab aus der Zeit der Napoleonischen Kriege entdeckt worden. Ein Baustopp kommt für sie nicht in Betracht. Den hat die Generaldirektion Kulturelles Erbe aber längst verhängt, um die nötigen Notgrabungen vorzunehmen. "Das ist eine ganz hochrangige stadtgeschichtliche Quelle", sagt Archäologe Jens Dolata von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz. Das immerhin ist bemerkenswert, denn die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit ist in Rheinland-Pflaz bis heute unbegreiflicherweise nicht institutionalisiert (Archaeologik 8.2.2014).
Aus den Medienberichten tritt uns eine deutliche Unsicherheit im Umgang mit Befunden aus dem 19. Jahrhundert entgegen. Sie sind nicht generell unwichtiger als die Römerzeit! Es hängt entscheidend von der konkreten Fragestellung ab,  die natürlich sehr viel spezieller ist, als in früheren Perioden. Allerdings ist inzwischen auch dort oft ein Forschungsstand erreicht, der die Frage aufwirft, was weitere Grabungen an neuen Erkenntnissen liefern sollen. Brauchen wir die 300. mittelalterliche Latrine, die 500. römische Villa?
Nun gibt es einige Orte, wie etwa das römische (aber eigentlich auch das mittelalterliche) Mainz, die so bedeutend sind, dass die Kenntnis der historischen Topographie eine umfassende archäologische Betreuung erfordert. Hier muss heute sehr genau abgewogen werden, welche Fragen wichtig sind. Das sind heute allerdings vielfach auch andere als noch vor 20 Jahren, einerseits weil Fragen geklärt sind, andererseits aber auch, weil neue Methoden wie auch neuere gesellschaftliche Entwicklungen ganz neue Fragen an die Geschichte stellen lassen. Dazu gehören eben auch vergleichende Analysen, die eine statistisch auswertbare Basis, also auch die 301. Latrine und die 501. Villa benötigen, um wissenschaftlich tragfähige Ergebnisse darüber zu erzielen, wie sich vormoderne Gesellschaften entwickelt haben.
So sind wir heute mit der modernen Anthropologie und genetischen Untersuchungen in der Lage sehr viel mehr zu Demographie, aber auch zum Gesundheitszustand der Menschen auszusagen. Diese Fragen erfordern oft eine langfristige Perspektive, die bis an die Gegenwart heranreicht.


An Fleckfieber ("Typhus de Mayence") erkrankte französische Soldaten in Mayence 1813. zeitgenössische Lithographie von Auguste Raffet
(PD via WikimediaCommons)

Das ist auch bei dem neuen Befund in Mainz der Fall, der eben tatsächlich einen besonderen Quellenwert hat, der auch über die Stadt hinaus reicht.

Die äußeren historischen Ereignisse sind wohl bekannt. Nach der Niederlage in der Völkerschlacht von Leipzig flohen Reste der Napoleonischen Grande Armée über den Rhein in die damals französische Festungsstadt Mayence/ Mainz. Die Stadt wurde darufhin von deutschen und russischen Truppen belagert. In der Stadt brach das Fleckfieber ("Typhus de Mayence") aus, dem etwa 17.000 Soldaten und 2.400 Einwohner zum Opfer fielen.
Um all das zu wissen, brauchen wir keine Archäologie.
Aber die Archäologie soll auch nicht Geschichte illustrieren, sondern neue Einblicke liefern. Das fällt in der Römerzeit leichter als in der Neuzeit, wo eben viele Schriftquellen oder zuletzt gar noch Zeitzeugen vorhanden sind, die man einfach befragen kann. Texte berichten aber nur selektiv oder gar falsch. Archäologische Fragestellungen in der Neuzeit ergeben sich zu Themen, bei denen es entweder keine Schriftquellen gibt oder aber gerade dort, wo eine dichte Überlieferung mit der materiellen Kultur konfrontiert werden kann und sich daraus neue Perspektiven und Einsichten ergeben, die über das Verständnis der Zeitgenossen hinausgehen oder auch deren subjektive Wahrnehmung entlarven können.

Die Gräber wurden vor der Festungsmauer angelegt. Wie viele Tote in dem nun aufgefundenen Grab liegen ist noch unklar, doch wurden die Toten hier regulär in Reihen bestattet, nicht verscharrt. Vermutlich sind sie mit der Epidemie in Verbindung zu bringen, wobei die Medienartikel bisher - soweit ich gesehen habe - nicht auf die Argumentation eingehen, die zu der Identifikation geführt hat.
Methodisch wäre übrigens interessant, inwiefern die Toten von den Strapazen des Russlandfeldzugs gezeichnet waren.  
Der Typhus von 1813 war wohl gar kein Typhus, sondern Fleckfieber - das hat man damals nicht differenziert. Die Skelettreste können diese Frage ggf. klären - genau das möchten Mediziner am Institut für Tropenmedizin der Universität Hamburg klären. Untersuchungen an alter DNA können heute klären, welche Krankheitserreger hier im Spiel waren - und können zeigen, wie diese im Lauf der Zeit mutiert sind. So etwas kann eine wichtige Information für die moderne Medizin sein.
Auch der Fundort des Grabes ist interessant. Er war vorher nicht bekannt - entweder weil niemand die vorhandenen schriftlichen Quellen beachtet bzw. richtig lokalisiert hat, oder weil sie verloren gegangen sind, oder weil sie in der Situation der Belagerung nie angelegt worden sind. So oder so ist erklärungsbedürftig, warum man die Grabstelle nicht erinnert hat - weil hier unbeliebte Franzosen bestattet wurden?

Fragestellungen, zu denen die Archäologie neue Quellen erschließen kann, gibt es auch in der Neuzeit, selbst im 20. Jahrhundert.  Funde der Neuzeit sind nicht generell unwichtiger als die Römerzeit - erforderlich ist hier ein Abwägungsprozess, der für die Denkmalpflege freilich mit der Herausforderung verbunden ist, auch solche Quellen zu erhalten, deren Quellenwert und Fragestellungspotential heute möglicherweise noch gar nicht ganz absehbar ist. Hier liegt auch eine wichtige Aufgabe für die universitäre Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, die offiziell aber nur an fünf Orten in Deutschland auch explizit als Fach präsent ist (Portal kleine Fächer). Übrigens: Für den Schützenverein als Bauherr scheint weniger die Denkmalpflege als vielmehr der Umgang mit der Totenruhe das Problem, was angesichts der sonst eher kurzen Liegezeiten auf modernen Friedhöfen etwas kurios erscheint.


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