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Mittwoch, 15. Juni 2016

Archäologen, Historiker, Mathematiker und Agenten



G. Wurzer/ K. Kowarik/ H. Reschreiter (Hrsg.)
Agent-based Modeling and Simulation in Archaeology

Advances in Geographic Information Sciences

(Cham, Heidelberg: Springer 2015)

ISBN 978-3-319-00007-7

139,09€ (e-book 108,09€)


Mit 269 Seiten ist dieses Buch ein stattliches Buch. Es ist eine willkommene erste Einführung in das recht neue Feld der Modellierung und Simulation in der Archäologie, das sich hoffentlich in den kommenden Jahren richtig etablieren wird. Es hat großes Potential, zu systematischen Analysen historischen Wandels vorzudringen, ist allerdings auch mit einigen methodisch-theoretischen Problemen verbunden (vergl. Historische Modellierung im Konfliktfeld von Natur- und Geisteswissenschaften. Archaeologik 8.1.2016). Der ebenso stattliche Preis des Buches ist hier ein klares Manko und es stellt sich die Frage, warum hier nicht besser kostengünstig online open access publiziert wurde. Die Wahrnehmung und Wirkung der wichtigen Aufsätze wäre gewiss größer.

Das Feld der archäologischen Simulation ist weit, die Fragestellungen dabei sind sehr unterschiedlich. Der Band deckt mit dem Agent based Modelling nur einen Teil des Spektrums ab - gleichwohl einen sehr zentralen.



Inhaltsverzeichnis

I. Introduction
Mark W. Lake
Explaining the Past with ABM: On Modelling Philosophy
S. 3-35

Alan C. Swedlund, Lisa Sattenspiel, Amy. L. Warren, George J. Gumerman
Modeling Archaeology: Origins of the Artificial Anasazi Project and Beyond
S. 37-50

II. Methods
Felix Breitenecker, Martin Bicher, Gabriel Wurzer
Agent-Based Simulation in Archaeology: A Characterization
S. 53-76

Niki Popper (et al.)
Reproducibility
S. 77-98

Andreas Koch
Geosimulation: Modeling Spatial Processes
S. 99-118

Xavier Rubio-Campillo
Large Simulations and Small Societies: High Performance Computing for Archaeological Simulations
S. 119-137

Kerstin Kowarik (et al.)
Mining with Agents: Modelling Prehistoric Mining and Prehistoric Economy
S. 141-159

Enrico R. Crema
Modelling Settlement Rank-Size Fluctuations
S. 161-181

Alžběta Danielisová, (et al.)
Understanding the Iron Age Economy: Sustainability of Agricultural Practices under Stable Population Growth
S. 183-216

Joan A. Barceló (et al.)
Simulating Patagonian Territoriality in Prehistory: Space, Frontiers and Networks Among Hunter-Gatherers
S. 217-256
André Costopoulos 
How Did Sugarscape Become a Whole Society Model?
S. 259-269





Die Beiträge von Mark W. Lake (S. 3ff.) und von F. Breitenecker, M. Bicher und G. Wurzer (S. 53ff.) formulieren etwas grundsätzlicher Hintergründe und Prinzipien des ABM.
Lake gibt auch gleich zu Beginn eine Definition von ABM:
"Agent-based modelling (ABM) is a method of computer simulation that is particularly well suited to exploring how the aggregate characteristics of some system arise from the behaviour of its parts. The parts in question are modelled as 'agents', that is, units which habe causal efficacy and can reasonably be treated as individuals... Their behaviour is governed by rules which specify how they respond to the content of that environment and possibly also the behaviour of other agents."
Im weiteren geht Lake auf die Gründe ein, überhaupt Computersimulationen vorzunehmen, auf das Menschenbild und Rationalitätsprinzip, das dem ABM zugrunde liegt - und das dem klassischen archäologischen Geschchtsverständnis grundlegend widerspricht. Ein weiterer Punkt seines Beitrages liegt im Nutzen und Lerneffekten des ABM für die Archäologie.
Breitenecker u.a. ergänzen diese Einführung um die mehr praktischen, methodischen Aspekte des ABM.

Zahlreiche Beispiele beleuchten Schwierigkeiten und Methoden des ABM, von denen hier nur einzelne Aspekte herausgegriffen seien.


Der Beitrag von Alan C. Swedlund, Lisa Sattenspiel, Amy. L. Warren und George J. Gumerman stellt eine Modellierung der Anasazi-Siedlungsgeschichte dar. Sie wurde "bottom-up" angelegt, das heisst, es wurden tatsächlich Menschen als Akteure zugrunde gelegt und auf abstrakte Größen (Sterblichkeit, Fertilität, Bedarf), wie sie sich bei mathematischen Modelllierungen ergeben, so weit als möglich verzichtet.
Letztlich handelt es sich nicht um eine große Modellierung sondern um viele kleine Testläufe und Experimente mit unterschiedlichen Fragestellungen und Zielsetzungen. Eine erste Modellierung war Artificial Anasazi (AA), gefolgt von der Modellierung mit der Bezeichnung "Artificial Long House Valley (ALHV)". Die ältere AA-Modellierung setzt auf der Skalenebene des Haushalts an. Dabei wurde eine Modelllierungszyklus angenommen, der mehrere Schritte durchläuft, eher er von neuem beginnt:


Gründung eines Haushalts
→ Suche eines Siedlungsplatzes: Platz verfügbar?
→ Kalkulation des Ertrags in jeder räumlichen Einheit (Zelle)
→ Platzierung der Siedlungsplätze im Raum
→ Überprüfung, ob jeder Haushalt über genügend Getreidevorräte verfügt
→ Prüfe Alter des Haushalts: hier wird ein Maximalalter angenommen
→ Abschätzung des neuen Ernteertrags und Aufstockung der Getreidevorräte
→ Überprüfung, ob der Haushalt über genügend Lebensmittel für das kommende Jahr verfügt
   → ggf.Verlegung der Siedlung
→ innerhalb der fruchtbaren Periode Reproduktion der Siedlung (nach einer Nutzer-bestimmten Wahrscheinlichkeit) → Gründung eines neuen Haushaltes
 →

Die Kalkulation eines solchen Zyklus setzt einige grundlegende Parameter voraus, die zum einen aus einer lokalen, in Areale (Zellen) unterteilten Karte, zum anderen aus einigen Annahmen zur Verfügbarkeit von Wasser, den Ernteerträgen und potentiellen Siedlungsplätzen besteht. Zudem müssen die Ausgangsbedingungen festgelegt werden (Verteilung der Siedlungsplätze, vorhandene Vorräte etc.). Auf der Basis dieses Modells und dieser Grundannahmen wurde eine Bevölkerungsverteilung simuliert ebenso wie eine Kalkulation der Bevölkerungsentwicklung, die mit den tatsächlich ermittelten Daten abgeglichen wurde.
Der Beitrag geht nicht auf die Aussagen ein, die zur Siedlungsgeschichte der Anasazi abzuleiten sind. Er führt jedoch vergleichend andere Modellierungsansätze auf, die bis in die 1970er Jahre zurück reichen. Zu nennen sind insbesondere die Modellierungen, die im Village Ecodynamics Project I und II (http://village.anth.wsu.edu/) als eine der bislang komplexesten Modellierungen einer Kulturentwicklung durchgeführt wurden.

Enrico R. Crema modelliert sehr grundsätzlich Siedlungshierarchien und ihre Veränderungen (S. 161ff.). Dabei sieht er Störungenvon außen als einen wesentlichen Faktor. Als Ergebnis skizziert er vier verschiedene Szenarien.

Etwas weniger theoretisch stellt sich die Modellierung von Alžběta Danielisová, Kamila Olševičová, Richard Cimler und Tomáš Machálek dar, die sich unter dem Titel "Understanding the Iron Age Economy: Sustainability of Agricultural Practices under Stable Population Growth" konkret mit dem latènezeitlichen Oppidum Staré Hradisko  in Tschechien auseinandersetzen (S. 183-216) .

Fazit

Der Band gibt einen Überblick über Methoden und Möglichkeiten archäologscher Modellierungen. Jenseits der technischen Perfektionierung scheint es mir wesentlich, dass ABM vor allem eine Methode darstellt, um möglich Szenarien gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und Dynamiken zu testen. Die Herausforderung des Modellierens liegt darin Entwicklungen in den archäologischen Daten zu identifizieren, die potentiellen Agenten zunächst überhaupt zu bestimmen und sich sodann qualifizierte Gedanken über deren mögliche Wechselwirkungen zu machen. Dafür benötigen wir jedoch theoretische Hintergrundkonzepte, etwa aus der Humanökologie oder der Soziologie. Wie so oft besteht das Risiko, das Methode und Technik die theoretischen Grundlagen überholen und so letztlich viel an Qualität und potentieller Überzeugungskraft verlieren.  



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