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Donnerstag, 7. November 2013

Europa erfindet die Zigeuner

Klaus-Michael Bogdal
Europa erfindet die Zigeuner
Eine Geschichte von Faszination und Verachtung
(3. Aufl. Berlin: Suhrkamp 2011)

ISBN 978-3518422632
Der Band ist auch in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.

Schon 2011 erschienen, wurde das Buch 2013 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet. Es ist ein aktuelles Buch, wie andauernde Ausschreitungen gegen Sinti und Roma in Ungarn, aber auch Interviewäußerungen deutscher Bürger nach den ausländerfeindlichen Übergriffen 1992 in Rostock-Lichtenhagen zeigen. Geschrieben von einem Literaturwissenschaftler ist es aber auch ein aktuelles Buch für die Archäologie. 

Bogdal verfolgt die literarischen Motive, die in der europäischen Literaturgeschichte mit den Zigeunern verbunden wurden durch die Jahrhunderte. Die Fremdbezeichnungen der Sinti und Roma als Gitanos, Egyptier, Gypsies, Tataren oder Zigeuner und eben auch die literarisch ausgeschmückten Legenden einer Herkunft aus Ägypten zeigen, wie wirkmächtig und wie falsch diese sein können. Einige der Vorurteile halten sich über die Jahrhunderte (wie das Motiv der Kindesentführer, das gerade wieder aufblüht), andere Einschätzungen verändern sich im Lauf der Zeit - mit dem Aufkommen moderner Staatlichkeit etwa, einer ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzung oder der Romantik, vor allem aber auch mit dem Aufkommen nationaler und rassischer Kategorien im 19. und 20. Jahrhundert, die einer Enteuropäisierung der Zigeuner Vorschub leisten.
Die "Erfindung" der 'Zigeuner' erweist sich als ein vielgestaltiger, komplexer und langwieriger Prozess. Vor dem Hintergrund der Formierung von Nationen und schließlich auch eines modernen Europa entwickelt sich eine "Spirale der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung". Bogdal identifiziert vier Momente in der Auseinandersetzung mit den 'Zigeunern':
  1. Die bloße Existenz der Romvölker wird als allgegenwärtige Bedrohung empfunden, die einen Abstand erfordert
  2. Eine Integration der 'Zigeuner' wird als unmöglich erachtet.
  3. Die Zigeuner dienen als Maßstab der eigenen zivilisatorischen Entwicklung. Je größer das Bewußtsein des eigenen zivilisatorischen Fortschritts, desto geringer ist der Stellenwert der 'Zigeuner' - trotz einer romantischen Verklärung. "Nicht Ähnlichkeiten oder der kleinste gemeinsame Nenner interessieren, sondern die größtmöglichen Unterschiede" (S. 482). Die 'Zigeuner' bilden das Gegenbild zum Selbstverständnis der europäischen Nationen als Kulturvölker.
  4. Es sind mehr die Bilder, die man sich von den Zigeunern macht, als die reellen Menschen, die die soziale Verortung der Romvölker innerhalb der europäischen Gesellschaft prägen. Dies gilt von den ersten Darstellungen der Zigeuner in den mittelalterlichen Stadtchroniken bis hin zu den rassistischen Schriften des 20. Jahrhunderts, die die alten Klischees nur selektiv 'biologische' Daten beimischt. Die Verwandlung der im Mittelalter in Europa eingewanderten Romvölker in 'die Zigeuner' ist eine kulturell bedingte, symbolische Repräsentation, die eine Entzivilisierung der Gesellschaft nach sich zog und nicht nur zur Ausgrenzung, sondern auch zum Töten eines Teils ihrer selbst führte.



Ankunft der "swartzen getouften haiden"
vor Bern, Spiezer Chronik des
Diebold Schilling d. Ä. (um 1445-1486)
([Public domain], via Wikimedia Commons)
In seinem Eingangskapitel verweist Bogdal auf die Rolle der Chroniken als dominierende Quelle, die kaum etwas über den Alltag der Roma-Gruppen berichten. Sie treten nur in wenigen Ausnahmesituationen ins Blickfeld der schriftlichen Überlieferung.  In der Außenwahrnehmung wurde die eigene Sprache der Sinti und Roma über Jahrhunderte hinweg gar nicht registriert, da sie sich erstaunlicherweise von Anfang an, in den jeweiligen Landessprachen verständigen konnten.

Archäologische Zeugnisse - die Bogdal überhaupt nicht bewusst sind - bieten hier prinzipiell die einzige Möglichkeit, direkte Informationen zu gewinnen. 
Die Archäologie der Neuzeit entdeckt gerade das Thema der sozialen Unterschichten. Am deutlichsten fassbar sind diese Randgruppen in der Regel nur an ihren Bestattungsplätzen, da von fahrendem Volk eben keine klassischen Siedlungsfunde übrig bleiben (Müller 2013).  Die 'Zigeuner' bilden einen wichtigen Kontrast zu anderen Gruppen, denen eine Integration oder Assimilierung gelungen ist  (vgl. Archaeologik: Integration ).

Allerdings ergibt sich hier das Problem der Zuweisung der Funde: Wie lassen sich Relikte der 'Zigeuner' eben dieser Gruppe zuweisen? Mit diesem Problem werden sie zu einem Testfall der in der Archäologie üblichen ethnischen Interpretation.

Die Romagruppen sind ein Beispiel für die Dynamiken von Ausgrenzung und Identitätsbildung. Ihre 600jährige Geschichte in Europa macht die Entwicklungen der europäischen Länder zu Territorial- und Nationalstaaten als eine Art Gegenpol mit, der deutlich erkennen lässt, wie unsere modernen Kategorien von ethnischen Gruppen zeitgebunden sind - und somit für eine historische Analyse in einer Langzeitperspektive unbrauchbar sind. Deutlich wird dabei auch, wie problematisch die Kategorie der Ethnizität für vormoderne Perioden ist, gerade dann, wenn keine Selbstzeugnisse vorliegen.

Eine Sozialarchäologie darf nicht dabei stehen bleiben, soziale Gruppen zu identifizieren, sie muss viel mehr fragen, wie Menschen miteinander umgegangen sind. "Der Umgang mit den Fremden und der Prozess ihrer Marginalisierung und Ausgrenzung kann an der Geschichte der kulturellen Repräsentation der Romvölker als Zigeuner bei aller Besonderheit exemplarisch gezeigt werden" (S. 480).


Literaturhinweis
  • U. Müller, Zwischen Himmel und Hölle – Randgruppen in der Vormoderne. In: S. Kleingärtner/U. Müller/J. Scheschkewitz (Hrsg.), Kulturwandel im Spannungsfeld von Tradition und Innovation (Neumünster 2013) 321–334.
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