Zahlreiche Forschungsarbeiten zum mittelalterlichen Dorf zeigen eine allmähliche, sehr langfristige und sehr komplexe Genese des Dorfes, die um 1200 noch nicht abgeschlossen, wohl aber in einer entscheidenden Phase war. Der älteren Stadtgeschichtsforschung war dies nicht bewusst, sie hat das Dorf als alte Siedlungsform vorausgesetzt und die Stadt als „jüngere Schwester des Dorfes“ verstanden. Aber auch, als deutlich wurde, dass die Dorfgemeinde im Wesentlichen erst im Hochmittelalter entstanden ist, wurde das Verhältnis von Stadt und Dorf eher statisch gesehen. Unter umgekehrten Vorzeichen wurde nun die Stadtverfassung als Vorbild für die Ausbildung der Landgemeinde betrachtet.
Eine chronologische wie eine räumliche Korrelation von Wüstungserscheinungen und Stadtentstehung legt grundsätzlich nahe, dass der Strukturwandel, der in den ländlichen Siedlungen während des 12./13. Jahrhunderts zu beobachten ist, in einer Wechselwirkung mit der damaligen Städteentwicklung stand. Weder die chronologische noch die räumliche Korrelation können jedoch die erforderliche Klarheit schaffen. Die stadtnahen Wüstungen, die am ehesten mit einer Sogwirkung der Stadt und einer städtischen Siedlungskonzentration erklärzt werden können, scheinen überwiegend erst in das 13. Jahrhundert zu fallen. Bereits in die Zeit um 1200 fällt hingegen die Hauptphase des Auflassens von Siedlungsflächen in der Peripherie der überdauernden Ortschaften. Wenn schon hier ein Zusammenhang mit dem Wandel in der Stadt besteht, so ist er jedenfalls nicht aus einer Sogwirkung der Stadt zu erklären. Vielmehr ist mit komplexeren Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land zu rechnen.
Auch ein Blick auf die Diskussion um Stadt-Umland-Beziehungen in anderen Fächern, wie der Raumplanung oder der Sozial-, Wirtschafts- und Umweltgeschichte zeigt rasch, dass mit der topographischen Betrachtung keineswegs alle relevanten Aspekte abgedeckt sind. Von grundlegender Bedeutung sind die sozial-ökonomischen Spannungen, die sich durch eine Bevölkerungskonzentration in der Stadt, den daraus resultierenden sozialen Differenzierungen zwischen Stadt und Land, den unterschiedlichen Lebensbedingungen und den ökonomischen Abhängigkeiten von Stadt und Land ergeben. Hinzu kommen ökologische Aspekte urbanen Lebens, das mit seinem Energie- und Materialbedarf sowie seinen Abfällen erheblichen Einfluss auf das ländliche Umfeld hat. Die chronologische wie die räumliche Korrelation von Stadt und Wüstungen sind Indikatoren dafür, dass Zusammenhänge bestanden haben. Mit ihren Daten- bzw. Quellen-immanenten Unsicherheitsfaktoren haben sie allerdings nur einen geringen Erklärungswert.
Hier erweist es sich als hilfreich, das Siedlungsgefüge als Teil eines humanökologischen Systems zu betrachten, in dem die verschiedensten Faktoren und Akteure sich andauernd gegenseitig beeinflussen. Bestandteile des Systems sind die physischen Landschaftselemente wie zum Beispiel Böden, Wälder, Wiesen und Gewässer, aber auch Wetter und Klima sowie die gesamte Biosphäre von Viren und Bakterien bis hin zu den Haustieren. Dazu gehören vor allem aber auch der Mensch und seine Kultur.
Humanökologische Systeme können auf unterschiedlichen Skalenebenen betrachtet werden – vom Weltsystem über die Ebene einzelner Staaten, Regionen bzw. Landschaften, Siedlungen und Betriebseinheiten bis hin zum Individuum. Für die hier interessierende Fragestellung ist die Ebene der Siedlungsökologie von Bedeutung, die sich auf die einzelne Siedlung bzw. Siedlungskammer bezieht. Stadt- und Dorfökologie sind zwei spezifische Varianten der Siedlungsökologie.
Die Siedlungsökologie selbst ist keine Theorie, die es zu verifizieren oder zu falsifizieren gilt; sie ist primär ein gedankliches Konzept, das im Hintergrund dazu beitragen soll, neue Fragestellungen zu formulieren, die Komplexität historischer Situationen im Auge zu behalten und verschiedene historische Situationen vergleichend auf die jeweiligen Triebkräfte zu analysieren. Das Konzept der Siedlungs- bzw. Dorfökologie bietet die Chance, deterministische Aspekte und soziale Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen und kann damit eine integrative Rolle für Natur- und Geisteswissenschaften spielen, deren Daten und Quellen hier gleichermaßen berücksichtigt werden müssen.
(Schreg 2013) |
Ein wichtiger Aspekt in der Wechselwirkung von Stadt und Dorf im Mittelalter ist die Imagination der Stadt: Trotz eines ambivalenten Bildes der Stadt hat sie Einfluß auf die Gemeindebildung. Dörfliche Ämter orientieren sich am städtischen Vorbild.
Die Veränderungen im ländlichen Raum während des 12./13. Jahrhunderts fügen sich in einen umfassenden, komplexen Strukturwandel der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Gegebenheiten ein. Der Aufschwung der Stadt um 1200 sowie die dadurch bedingte Bevölkerungskonzentration sind als ein wesentlicher Faktor dieser Entwicklung wahrscheinlich zu machen.
Die Rolle der Herrschaft
In den Diskussionen
auf der Tagung war häufig von der Rolle der "Herrschaft" für die Stadtentwicklung die Rede. Letztlich blieb
dies aber hier - wie auch sonst sehr häufig in der archäologischen und
historischen Diskussion - eine kaum reflektierte 'black box'. Legt man dem Herrschaftsbegriff hier die Definition nach Max Weber zugrunde, wonach Herrschaft die Chance bezeichnet, dass Menschen einem Befehl gehorchen, muss man jedoch tiefer blicken. Es reicht hier nicht aus, Herrschaft als Obrigkeit zu verstehen, sondern man muss fragen, wie Befehle zustande kommen und tatsächlich umgesetzt werden. Das ist auch in nicht-demokratischen Gesellschaften ein Diskurs, mit ganz speziellen Regeln, wer sich wie daran beteiligen kann. Interessenskonflikte müssen geregelt werden.
Im Falle der mittelalterlichen Stadt werden solche Interessenskonflikte beispielsweise bei einem Blick auf die
Gewässerregulierungen deutlich, die bei Stadtgründungen sehr häufig vorgenommen wurden.
Hier mussten verschiedene Faktoren und Interessen berücksichtigt werden: Aspekte der
Verteidigung, die oft
konkurrierenden Nutzungen der Gewässer als Verkehrsweg, als Fischgrund,
als Gewerbekanal, als Energiequelle. Nötige Stauungen beeinträchtigten
angrenzende Felder. Unabhängig von den
Artikulationsmöglichkeiten bäuerlicher Interessen, waren auch sie ein
Faktor, der in Rechnung gestellt werden musste.
Hier musste auf Seiten der Herrschaft
eine Meinungsbildung stattfinden, aufgrund derer erst das
herrschaftliche Interesse definiert werden konnte. Die normalen historischen Quellen spiegeln sie nicht wieder, aber eine archäologisch-historisch-geographische Analyse kann mit der skizzierten Perspektive der Siedlungsökologie die Konfliktfelder definieren, auch wenn sie ggf. keinen schriftlichen Niederschlag gefunden haben.
Tagung
Für die
Archäologie des
Mittelalters ist die Entstehung der Stadt ein zentrales Thema. Im April
2011 beleuchtete eine Tagung im Landesamt für Denkmalpflege in Esslingen
den "Wandel der Stadt um 1200". Im Juli ist in der Reihe der
Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg der zugehörige
Tagungsband mit 25 Aufsätzen erschienen. Hier findet sich auch ein
Artikel, in dem ich die hier skizzierten Überlegungen etwas
ausführlicher und mit Fußnoten dargestellt habe.
Literaturhinweis- R. Schreg, Die Entstehung des Dorfes um 1200: Voraussetzung und Konsequenz der Urbanisierung. In: R. Röber/K. Igel/M. Jansen/ J. Scheschkewitz (Hrsg.), Wandel der Stadt um 1200. Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 96 (Stuttgart 2013) 47-66. (leider sieht das Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg kein green OA vor).
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