Mittwoch, 24. Januar 2018

Nahes und fernes Kulturerbe – Gedanken zu „Zweierlei Moral”

Beitrag von Raimund Karl

Abriss des Immenrather Doms 2018
zur Erweiterung des Braunkohletagebaus
(Foto: Raimond Spekking [CC BY-SA 4.0]
via Wikimedia Commons)
Der provokative Beitrag Zweierlei Moral? (Archaeologik [19.1.2018]) hat in der fb-Gruppe Archäologie in Deutschland zu einigen Reaktionen geführt. Einige Kommentatoren haben die Vergleichbarkeit der beiden Fälle bezweifelt oder das geringe Alter des "Immenrather Doms" hingewiesen (was für dessen Bedeutung für die Dorfgemeinschaft und die Regionalgeschichte aber nicht wesentlich ist, zumal er nur exemplarisch für den ganzen Braunkohletagebau steht), doch wurde auch darauf verwiesen, dass es in Deutschland möglicherweise eine höhere Wertschätzung fremden Kulturgutes gäbe. Die recht ausführlichen Gedanken von Raimund Karl dazu möchte ich auch hier im Blog einstellen, da ich sie für eine überfällige Debatte als hilfreich empfinde [RS]:



In diesem Fall sehe ich wenig Grund, die von Rainer Schreg in diesem Fall postulierte "Ungleichwertung" von kulturellem Erbe bzw. die "Doppelmoral" in der Bewertung der Zerstörung von Kulturgütern mit einer Überkompensation des Missbrauchs des "eigenen" kulturellen Erbes Deutschlands während des 3. Reichs und einem dadurch verursachten "gestörten" Verhältnis der "Deutschen" mit diesem zu erklären. Eine solche Überkompensation hat es zweifellos gegeben und gibt es zweifellos auch immer noch, und der "Nationalstolz" der "Deutschen" auf das deutsche Kulturerbe ist in diesem Sinn tatsächlich gestört. Gerade im Fall des Vergleichs der Empörung über die Zerstörung Palmyras durch Daesh (oder wei auch immer man sie gerade nennen soll) und der weit geringeren Empörung über die Zerstörung des "Immenrather Doms" (und anderem Kulturerbe im Braunkohletagbau, die sich, wenn man von dem gerade konkret herangezogenen Fall einmal absieht, tatsächlich in Anbetracht von 95% Zerstörungsquote bekannter archäologischer Fundstellen im Braunkohletagbau - um von den unbekannten gar nicht erst zu reden - durch vollständiges Fehlen öffentlich geäußerter Empörung auszeichnet) würde ich ganz andere Gründe für die "Ungleichwertung" verantwortlich machen.

Um zu zeigen, dass diese "Doppelmoral" nicht durch "deutsche Überkompensation" erklärbar ist, ein kurzer Blick nach Großbritannien, wo ich ja lebe, erhellend: hier hat die Zerstörung von Palmyra auch viel mehr Empörung "ausgelöst" als z.B. die Pläne für die teilweise Verlagerung (für deren geplante Verbreiterung) der an Stonehenge vorbeiführenden Bundesstrasse in einen Tunnel und die - wenn es zur Umsetzung dieser Pläne kommt - damit verbundene radikale Umgestaltung der historisch gewachsenen Kulturlandschaft um Stonehenge (zu der natürlich auch die an diesem Denkmal vorbeiführende Strasse gehört, die somit auch Kulturerbe ist); geschweige denn die stetig vorkommende (ob nun ganz oder nur teilweise archäologisch dokumentierte) Vernichtung weit weniger prominenter archäologischer Fundstellen und anderer Kulturdenkmale im Kontext der normalen modernen Landschaftsnutzung. Und die Briten sind gerade auf Stonehenge besonders stolz und leiden auch auf ihr sonstiges kulturelles Erbe sicherlich nicht an einer "deutschen Überkompensation". Es scheint mir also höchst unwahrscheinlich, dass die "Doppelmoral", die Rainer Schreg hier kritisiert, irgendwas mit einem "gestörten" Verhältnis zum "eigenen" Kulturerbe oder einer ebenso "gestörten" nationalen Identität zu tun hat.
Ich sehe gerade im Fall dieser "Doppelmoral" ganz andere und weit wichtiger Gründe, die die unterschiedliche Bewertung der (bzw. Empörung über die) Zerstörung Palmyras und des "Immenrather Doms" weit besser erklären.

Diese sind
  1. der Propagandakrieg zwischen Daesh und der restlichen ("zivilisierten" und auch nicht so "zivilisierten") und insbesondere der "westlichen" Welt. Dieser war keineswegs eine rein einseitige Sache, bei der der "bösen" Propaganda des Daesh (und die Zerstörung von Palmyra war in erster Linie eine Propagandaaktion des Daesh) von der Gegenseite (zu der auch und insbesondere "wir" in der "westlichen" Welt gehören) nichts als die nackte Wahrheit entgegengestellt wurde. Vielmehr wurde die Zerstörung der "Weltkulturerbestätte" Palmyra durch Daesh von "unserer Seite" genauso zu (nur aus unserer Sicht "guten") Propagandazwecken genutzt wie von Daesh.
    Der Punkt des Konzepts des "Weltkulturerbes" ist, dass sich (idealerweise) Menschen in aller (aber insbesondere in der westlichen) Welt mit dem derart designierten Kulturerbe identifizieren, sowohl aus Gründen des (dadurch im Vergleich mit dem Schutz beliebiger anderer Kulturgüter im betreffenden Land normalerweise stark verbesserten) Kulturgüterschutzes für die so designierten Stätten, als auch aus beinharten ökonomischen Interessen im Bereich des Kulturtourismus, Die erwünschte Selbstidentifikation "aller" (aber insbesondere "westlicher") Menschen mit dem Weltkulturerbe führt nämlich letztendlich dazu, dass sich mehr (vor allem reiche "westliche") Menschen die derart designierten Stätten anschauen wollen. Das macht es für (fast) jeden Staat und dessen Regierung attraktiv, diese Stätten besonders gut (und oft weit besser als anderes "nationales" Kulturerbe) zu schützen, weil das Kohle auch in ihre Taschen spült, die sie sonst nicht hätten.
    Dadurch, dass sich "alle" (und insbesondere "westliche") Menschen selbst mit dem Weltkulturerbe identifizieren, macht es aber gerade in gewaltsamen Auseinandersetzungen (insbesondere solchen, in denen die eine Seite sich nicht zuletzt durch eine Abgrenzung gegenüber der "westlichen" Welt definiert) zu einem extrem geeigneten Propagandamittel. Die, die sich gegen "den Westen" (und auch "alle" anderen) abgrenzen, können dadurch, dass sie Weltkulturerbe zerstören, zeigen dass sie "dem Feind" damit "Schaden" zufügen und somit bei ihren eigenen Anhängern punkten. Aber "der Westen" (und "alle" anderen auf der Gegenseite) können die Selbstidentifikation von Leuten auf der "westlichen" (bzw. anderen) Seite mit diesem Kulturerbe ebenso nutzen, weil ein Angriff auf etwas, mit dem sich auch nur ein Teil der eigenen Bevölkerung identifiziert kann als Angriff auf die eigene Gemeinschaft (bzw. "die Menschheit") in ihrer Gesamtheit dargestellt werden (und wurde es in diesem Fall auch; ebenso wie im Fall der Bamiyan Buddhas, wo sich genau dasselbe beobachten hat lassen).
    Die Medien spielen hier auch dankbar mit: "Skandale", über die sich die Leute "empören" können, verkaufen das Produkt der Medien besser als alles andere. Also wird in solchen Fällen - die bei uns im "Westen" (und auch praktisch überall sonst auf der Welt) letztendlich gesellschaftlich weitestgehend folgenlos sind und bleiben (außer vielleicht, dass ein paar ArchäologInnen ein paar Millionen Euro für neue Forschungs- und vielleicht ein paar Wiederaufbauprojekte für das betroffene Kulturerbe bekommen, die dafür woanders im Kulturgüterschutz weggespart werden) - die propagandistisch gewollte "Empörung" gehypt.
  2. In Deutschland wie auch in Großbritannien ist - selbst extreme - "Empörung" über die Zerstörung "unseres gemeinsamen Welterbes" vollkommen unproblematisch, wenn nicht sogar nützlich. "Wir Deutsche" oder auch "wir Briten" oder sogar "wir zivilisierten Menschen" können uns alle vollkommen einig drüber sein, dass das "ein Skandal ist!!!!!!!!", weil es hier praktisch niemanden gibt, der ein ernsthaftes Interesse daran haben kann, irgendwo in Syrien oder auch Afghanistan, wo 99% der Bevölkerung nicht nur nie waren, sondern auch nie hinkommen werden, irgendwelche alten Sachen in die Luft zu blasen. Die "Empörung" über diese Zerstörung tut also niemandem weh und schweißt "uns" zusammen. Mit der Zerstörung von "unserem eigenen" Kulturerbe wie dem "Immenrather Dom" (oder auch der historisch gewachsenen Kulturlandschaft um Stonehenge; oder auch der sonstigen Archäologie im deutschen Braunkohletagbau oder irgendwo in Großbritannien, die Baumaßnahmen zum Opfer fallen soll) ist das hingegen ganz anders. Weil die Erhaltung unseres "eigenen" Kulturerbes bedeutet wenigstens für manche von "uns" einen Verzicht auf irgendetwas. Im Fall des "Immenrather Doms" (und des archäologischen Kulturerbes in den Braunkohlegebieten) hatte wenigstens das Unternehmen, das dort Braunkohle abbauen will (und wahrscheinlich auch dessen Angestellte, die ihren Job behalten und bezahlt werden wollen) ein gewisses Interesse daran, dass es dieses Kulturerbe zerstören darf. Und überhaupt ist der Denkmalschutz vielen Menschen ein gewisser Dorn im Auge, vor allem wenn er sie selbst und ihr Eigentum betrifft und eventuell ihre Pläne, wie sie dieses Eigentum nutzen (oder auch nur verändern) wollen behindert. Oder anders gesagt: es gibt in unserer jeweiligen ("deutschen", "britischen", "westlichen" etc.) Gesellschaft selbst eine nicht irrelevante Bevölkerungsgruppe, die zwar vielleicht nicht gegen, aber jedenfalls auch nicht für die Erhaltung des "eigenen" Kulturerbes ist; und sogar in Fällen, in denen dieses sie selbst und die Verwirklichung ihrer eigenen Interessen behindern könnte, ganz konkret gegen die Erhaltung des (bzw. wenigstens dieses bestimmten) Kulturerbes ist.
    Das "eigene" Kulturerbe spaltet also die "eigene" Gesellschaft in zwei Lager; und diese beiden Lager können vielleicht gegeneinander Propagandafeldzüge führen, aber nicht einen gemeinsamen Propagandafeldzug gegen einen gemeinsamen "äußeren" Feind. Daher ist auch die gesamtgesellschaftliche "Empörung" und vor allem der diese zusätzlich anfeuernde Medienhype weitaus geringer.

Die Folge dieser beiden Gründe ist, dass in einem Fall sich die "Empörung" soweit aufschaukelt, wie es geht, während im anderen Fall die Empörung eher unterdrückt wird bzw. durch Unterstützung der Zerstörung ausgeglichen wird. Folge ist eine scheinbare "Doppelmoral", die aber eigentlich gar keine ist, bzw. nur sehr bedingt eine ist.

Der "innerdeutsche" ("innerbritische" etc.) Interessenskonflikt wird noch dazu durch gesamtgesellschaftlich akzeptierte, bei uns noch dazu demokratisch legitimierte Interessensausgleichsmechanismen aufgefangen: es ist eben die Aufgabe der staatlichen Denkmalpflege, zwischen dem berechtigten Allgemeininteresse am Kulturgüterschutz und dem ebenso berechtigten Allgemein- und Individualinteresse an der wirtschaftlichen Nutzung der Landschaft und in dieser vorhandener Überreste der Vergangenheit abzuwägen. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert das letztendlich auch und regt sich daher nicht besonders darüber auf (wenn ihr nicht am konkret betroffenen Kulturdenkmal besonders viel liegt), wenn etwas weggebaggert wird, bei dem das Denkmalamt der Ansicht war, dass es "schon nicht so wichtig ist". Folge: weniger Empörung.

Es bedarf also keiner tiefenpsychologischen Kollektivschuldpsychose, um diese scheinbare "Doppelmoral" zu erklären. Vielmehr erklärt sie sich dadurch, dass es daheim mehr weh tut, wenn man sich streitet, als wenn man sich gemeinsam daheim darüber empört, dass irgendwer irgendwo irgendwas macht, das man nicht will...

1 Kommentar:

Alexander Riedmüller hat gesagt…

Als (ein) ‚Urheber‘ der Debatte um das Nachwirken bundesdeutscher „Überkompensationsstrategien“ als mögliche Ursache für Ungleichgewichtungen „fremden“ und „einheimischen“ Kulturgutes, stimme ich Raimund Karl bei der Benennung der von ihm genannten "anderen" Gründe durchaus zu, würde diese aber eher als sekundäre und nicht primäre Ursachen des unterschiedlich wertschätzenden Umgangs bzw. der Bewertung von 'eigener' und 'fremder' Kultur deuten.
Dies insbesondere unter Verweis auf die unter Historikern, Soziologen, Kultur-, Kunst- und Politikwissenschaftlern, Architekten und nicht zuletzt auch unter Denkmalpflegern und Bauforschern weitverbreitete Deutung der ‚Gründerzeit‘ und ihrer Bauwerke als Ausdruck eines rückwärtsgewandten, totalitären, antidemokratischen und nationalistischen „Deutschen Geistes“, welcher nicht nur das ‚psychologische und soziale Dispositiv‘ für den Ersten Weltkrieg, sondern - glaubt man dieser weitverbreiteten Geschichtsinterpretation - auch der NS-Zeit gegeben habe.
Auch wenn diese – teils offen essentialistische und rassistische – Argumentation im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zumindest stellenweise eine Differenzierung erfährt, so spielt(e) sie bis in die Gegenwart eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Frage nach dem „richtigen“ bzw. „angemessenen“ Umgang mit (deutschem) Kulturgut und dessen ‚Bedeutung‘ und ‚Wertigkeit‘ für die Gegenwart – So z.B.im Fall der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der Potsdamer Garnisonkirche, und all den anderen, nicht selten dezidiert als 'Abschied vom Ungeist der Vergangenheit‘ legitimierten und in die hunderte gehenden Purifizierungen oder Abrissen – gerade, aber längst nicht nur gründerzeitlicher - (Gottes-)häuser und Baudenkmäler, oder – ganz aktuell – in der Debatte um „Täterorte“ und (vorgeblich) „Böse Bauten“.
Und ja, das alles mag im Falle des Imrather Domes (gar) nicht (mehr erst) explizit ausgesprochen, diskutiert und ausgefochten worden sein, aber es ist der geistige und ideologische Kontext in und mit dem – nicht nur aber ganz besonders in Deutschland – über den Umgang mit Vergangenheit und Kulturerbe gedacht, diskutiert, beachtet, bewertet, verdrängt, vergessen, wertgeschätzt oder geringgeachtet - und im Zweifelsfalle - eben auch für oder gegen die Erhaltung eines Bauwerks oder Kulturguts entschieden wird.

Und nein, da kann, genügend Interesse und Wertschätzung vorausgesetzt, die eine gesellschaftliche Gruppe sehr wohl einen Konflikt mit der anderen um den Erhalt des eigenen Kulturerbes ausfechten und tut dies auch überall dort, wo das „eigene“ Kulturgut als „unproblematischer“ Teil der eigenen Identität begriffen wird und man nicht aus historischen wie ideologischen Gründen auf das kompensatorische „Ersatzkampffeld“ fremder und vorgeblich „unbelasteter“ bzw. „idealisierter“ Kulturen ausweichen muss.
So betrachtet liegt zwischen den 'sozialadäquaten' und 'interessensgeleiteten' Gründen Raimund Karls und der These der „historischen Überkompensation“ als Ursachen der ‚Ungleichgewichtung‘ und der "Doppelmoral" beim Umgang mit kulturellem Erbe (vielleicht) gar kein so großer Unterschied – sie sind eher zwei Seiten einer sich in der alltäglichen Praxis mitunter sehr ungut ergänzenden Medaille.